2015 musterte Hessens Verfassungsschutz viele Akten aus - darunter die des späteren Lübcke-Mörders Stephan Ernst. Der frühere Behördenchef Roland Desch misst dem keine Bedeutung für das Attentat bei. Von dem Rechtsextremisten wusste er damals auch nichts.

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U-Ausschuss: Ehemaliger Verfassungsschutz-Präsident als Zeuge

hessenschau vom 07.10.2022
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Als ein Rechtsextremist im Sommer 2019 den CDU-Politiker Walter Lübcke im nordhessischen Wolfhagen-Istha erschoss, war Roland Desch schon lange nicht mehr Präsident des hessischen Verfassungsschutzes. Vier Jahre zuvor war er vorzeitig in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden. In der zentralen politischen Frage des Falles vernahm ihn am Freitag dennoch der Lübcke-Untersuchungsausschuss des Landtages als Zeugen.

Die Frage lautet: Hätte der Mord verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz den verurteilten Täter Stephan Ernst im Jahr 2015 nicht endgültig vom Radar genommen hätte?

Desch sagte vor dem Ausschuss, er habe sich mit dem späteren Lübcke-Mörder nie befasst und nicht einmal seinen Namen gekannt. "Es gab in dieser Zeit keinen Anlass hierfür", erklärte der 69-Jährige, der das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) von Juni 2010 bis Februar 2015 leitete.

Warnung nicht gekannt

Allerdings hatte Deschs Amtsvorgänger Alexander Eisvogel intern vor Ernst gewarnt. Er hatte dessen Erwähnung in einem Papier über die rechte Szene in Nordhessen mit der Randnotiz versehen: "Ein brandgefährlicher Mann. Wie militant ist er aktuell?"

Von dieser Warnung habe er keine Kenntnis gehabt, auch nicht von Eisvogel selbst, sagte Desch aus. Er wisse auch nicht, was sein Vorgänger getan habe, um eine Antwort auf eine möglicherweise andauernde Militanz des späteren Lübcke-Mörders zu erhalten. "Mir liegt keine Antwort vor."

Desch hat demnach mit seinem Vorgänger zwar wiederholt Kontakt. Eine formelle und ausführliche Amtsübergabe habe es beim Wechsel an der Spitze der Behörde aber nicht gegeben.

Ist die Akte überhaupt von Bedeutung?

Es habe seinerzeit nach Ernsts rechtsextremistischen Straftaten in den 90er Jahren auch keinerlei Hinweise auf neuere gegeben, entgegnete Desch kritischen Fragen. Dass der Verfassungsschutz die Akte des Rechtsextremen für den Dienstgebrauch sperrte, wertete der Ex-Verfassungsschutzchef als nachvollziehbar. Er zeigte sich verwundert, dass der Sache überhaupt so viel Bedeutung für das spätere Attentat zugemessen werde.

"Was hätte es in Bezug auf den Mordfall geändert, wenn die Akte vorhanden gewesen wäre? Es gab doch keine neuen Erkenntnisse zu Ernst." So lautete Deschs rhetorische Frage. Der FDP-Innenexperte Stefan Müller widersprach ihm, hielt ihm eine "Anhäufung von Fehlern" entgegen. So habe Ernst später noch an einer rechten Sonnenwendfeier teilgenommen.

Neben einer Ex-Verfassungsschutzmitarbeiterin hatte im Juli auch einer der damals wichtigsten Männer im Innenministerium als Zeuge vor dem Ausschuss eine andere Auffassung vertreten: Angesichts der schweren Vorstrafen Ernst sei aus heutiger Sicht der Umgang mit der Ernst-Akte "eher nicht richtig" gewesen, sagte Wilhelm Kanther, damaliger Chef der Rechtsabteilung im Ministerium und heutiger Landeswahlleiter.

Hintergrund des Streits um die Akte: Infolge der NSU-Morde wurden Personenakten von Rechtsextremisten nicht automatisch aus Gründen des Datenschutzes gelöscht, wenn es längere Zeit keine Auffälligkeiten mehr gab. Durch dieses Moratorium hatten sich in Deschs Amtszeit mehr als 1.300 Akten beim Landesamt für Verfassungsschutz angesammelt.

Mitarbeiter der Behörde prüften wegen der Einführung eines neuen Datenverarbeitungssystems, welches Material übernommen werden sollte - das übrige wurde für den Dienstgebrauch gelöscht. So wurde auch Ernsts Akte ausgemustert.

Im Schnitt eine halbe Stunde Prüfzeit

Vertreter der Opposition hinterfragten am Freitag nicht zum ersten Mal kritisch, ob diese Prüfungen generell gründlich genug liefen. Zweifel daran hatte eine Ex-Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes mit ihrer Aussage in einer früheren Ausschussitzung geweckt. Denn um der Aktenmengen Herr zu werden, war ein Schnellverfahren eingeführt worden: Ähnlich gelagerte Fälle wurden auf Listen zusammengefasst.

Auf Nachfrage hielt es Desch für plausibel und ausreichend, dass pro digitaler Akte im Schnitt etwa zwei Minuten Zeit für die Löschprüfung geblieben sein sollen und pro Papierakte etwa eine halbe Stunde. Durch ein Vier-Augen-Prinzip vor jeder Sperrung sei Fehlentscheidungen vorgebeugt worden.

Nach Pannen abgelöst

Bevor er Verfassungsschutz-Chef wurde, war Desch Vize-Präsident des Landeskriminalamtes. Dort galt er als Rechtsextremismus-Experte. Er ist kommunalpolitisch als CDU-Fraktionsvorsitzender im Darmstädter Stadtparlament aktiv.

Innenminister Peter Beuth, ein Parteikollege, hatte ihn 2015 vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Damals stand der von ihm geführte Verfassungsschutz öffentlich in der Kritik, weil ihm unter anderem ein Treffen salafistischer Extremisten im Rhein-Main-Gebiet entgangen war. Auch von einem bundesweiten Neonazi-Netzwerk bemerkte die Behörde nichts, das ein Strafgefangener von seiner Zelle im Gefängnis Hünfeld (Fulda) aus aufgebaut hatte.

CDU sieht sich bestätigt

Von offenkundig "mangelnder Sorgfalt" beim Amtswechsel sprach nach Deschs Aussage SPD-Fraktionschef Günter Rudolph. Das habe zu einer "gewissen Orientierungslosigkeit" in dem Fall geführt - für Rudolph ein weiteres Indiz, dass das LfV lange unprofessionell gearbeitet habe. Verantwortliche seien bis heute Innenminister der CDU.

"Der Verfassungsschutz hat als selbsternanntes Frühwarnsystem komplett versagt", sagte Torsten Felstehausen (Linke). Er müsse durch eine transparent arbeitende Aufklärungsstelle ersetzt werden.

CDU-Ausschussobmann Holger Bellino wiederum sah sich durch Deschs Aussage bestätigt: Es hätten keine Anzeichen für die Tat vorgelegen. Und: "Politische Versäumnisse gab es nach bisherigen Erkenntnissen zu keinem Zeitpunkt."

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Noch 18 Zeugen sollen gehört werden

Der Lübcke-Untersuchungsausschuss im Landtag wurde 2020 eingerichtet. Seine Aufgabe ist es, die Rolle der hessischen Sicherheitsbehörden in dem Mordfall und mögliche Fehler aufzuarbeiten. Bis Februar 2023 sollen noch weitere 18 Zeugen befragt werden. Die Vorstellung des Abschlussberichts ist für den Sommer des kommenden Jahres vorgesehen. Vorsitzender ist der CDU-Abgeordnete Christian Heinz. Zu seinem neuen Stellvertreter wählte der Ausschuss am Freitag den FDP-Politiker Stefan Müller. Er folgt auf Hermann Schaus (Linke), der aus dem Landtag ausgeschieden ist.

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