Ein Schild am hessischen Landesamt für Verfassungsschutz in Wiesbaden

Die veröffentlichten Berichte zu den NSU-Akten zeigen, dass der hessische Verfassungsschutz zahlreichen Hinweisen offenbar nicht nachging. Von einem "Pulverfass" spricht die Linksfraktion und fordert eine umfassende Aufklärung. Die CDU hingegen sieht die Pressefreiheit überschritten.

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Verfassungsschutz-Berichte zum NSU veröffentlicht

hessenschau vom 29.10.2022
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Es sind 173 Seiten, viele voller Tabellen mit teils geschwärzten Feldern. "Relevante Personen" steht darüber, "relevante Taten", "relevante Beobachtungsobjekte". Auf vielen Seiten steht in Großbuchstaben GEHEIM. Nur: Jetzt sind die Dokumente des hessischen Verfassungsschutzes zur Auswertung der NSU-Akten öffentlich. Das ZDF Magazin Royale und die Plattform "Frag den Staat" haben die Berichte zugespielt bekommen und am Freitag frei zugänglich auf einer Webseite hochgeladen.

Miki Lazar aus Kassel könnte eigentlich feiern, bleibt aber ruhig. Vor Jahren hatte er mit fünf Mitstreitern eine Petition mit dem Ziel gestartet, die Akten zu veröffentlichen. Sie blieb trotz 134.000 Unterschriften ohne Erfolg, CDU und Grüne stimmten gegen die Offenlegung. Dass es dafür nun Investigativjournalisten brauchte, verstehe er einfach nicht, sagt Lazar kopfschüttelnd: "Alle, die ich im Laufe der letzten Jahre zu diesem Thema gesprochen habe, wissen genau wie ich: Es gibt mehr zu erfahren, das der Verfassungsschutz bisher noch versteckt."

In Sachen Verfassungsschutz und NSU ist der ehemalige hessische Landtagsabgeordnete Hermann Schaus ein Experte: Der Linken-Politiker hat sich tausende Stunden mit dem Thema NSU beschäftigt, an so manchem Sonntag Akten gewälzt. Schaus saß im Untersuchungsausschuss des Landtags zum Thema NSU. Der Verfassungsschutz sei ein Reizthema für die schwarz-grüne Regierung, sagt er: "Der CDU ist der Verfassungsschutz fast heilig. Insofern reagiert sie gegen alle Angriffe, auch gegen berechtigte Angriffe, immer in Abwehrhaltung. Und die Grünen machen leider mit."

Linken-Politiker Schaus: Inhalt der Akten nicht neu

Dabei sei der Inhalt der NSU-Akten gar nicht überraschend, sagt Schaus, der die nun offengelegten Akten bereits aus seiner Arbeit im Ausschuss kennt. Konkret handelt es sich dabei um zwei Berichte des Hessischen Verfassungsschutzes, in denen die Behörde die eigene Arbeit in Sachen Rechtsextremismus analysiert. Beauftragt wurden sie 2012 vom damaligen Innenminister und heutigen Ministerpräsidenten Boris Rhein (CDU), der wissen wollte, welche Hinweise über Rechtsextremisten und das NSU-Trio womöglich noch in den Archiven schlummerten.

Diese Berichte sind nun also offen zugänglich. Über den NSU selbst finde sich wenig, sagen die Journalisten des "ZDF Magazin Royale", aber man bekomme ein "mehr als zweifelhaftes Bild" von der Arbeit des Verfassungsschutzes. Die Behörde habe viele Informationen gesammelt, diese aber kaum miteinander verbunden oder analysiert, außerdem sei sie Hinweisen auf Waffen- und Sprengstoffbesitz von Rechtsextremen nicht nachgegangen - und sie habe mehrere Hundert Aktenstücke verloren, von denen nur etwas mehr als die Hälfte inzwischen wieder aufgetaucht sei.

Hessens Linke fasst das so zusammen: Man habe auf einem Pulverfass an Informationen gesessen und entspannt geraucht. "Es geht hier um eine organisatorische Unzulänglichkeit des Verfassungsschutzes", so Hermann Schaus. "Man muss das jetzt aufarbeiten, auch den Teil der inzwischen wiedergefundenen Akten untersuchen."

CDU kritisiert Veröffentlichung scharf

Die anderen Oppositionsparteien in Hessen halten sich erstmal zurück, die Regierungspartei CDU dagegen tobt. Der parlamentarische Geschäftsführer Holger Bellino kritisiert die Offenlegung scharf: "Dadurch könnten Menschenleben gefährdet und die Arbeit der Sicherheitsbehörden nachhaltig erschwert werden." Extremisten könnten nun ihre Rückschlüsse ziehen, die Pressefreiheit sollte sich nicht über rechtsstaatliche Grundsätze hinwegsetzen. Hier sei eine Grenze überschritten worden.

So will auch der hessische Verfassungsschutz die nun offengelegten Dokumente prüfen, insbesondere im Hinblick auf enthaltene personenbezogene Daten und "tangierte Staatswohlbelange", erklärt die Behörde in sieben dürren Zeilen. Man habe die Sendung "zur Kenntnis genommen" und stehe im Austausch mit der Polizei und den anderen Verfassungsschutzbehörden.

Schaus: V-Leute sind das Problem

Hermann Schaus sieht sich auch durch diese Reaktion bestätigt. Der Verfassungsschutz müsse offener werden, die Landesregierung die internen Verfahren überprüfen: "Die grundsätzliche Arbeitsweise des Verfassungsschutzes, also insbesondere das Aufbauen der Information auf bezahlte Neonazis, auf sogenannte V-Leute, das ist das Grundübel und das Hauptproblem - und das hat sich in all den Jahren nicht geändert."

Grüne sehen keine neuen Bezüge zum NSU

Mathias Wagner, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im hessischen Landtag, sagte, dass die Unterlagen "ein desolates Bild über den Zustand des Verfassungsschutzes in den damaligen Jahren" zeichneten. Neue Bezüge zum NSU könnten allerdings durch den Bericht nach bisherigen Erkenntnissen nicht hergestellt werden. "Sollte sich daran etwas ändern, muss das Gegenstand weiterer Aufklärungsarbeit sein", sagte Wagner.

Die Veröffentlichung des ZDF Magazin Royale werfe erneut "sehr grundsätzliche Fragen über die Kontrolle der Arbeit des Verfassungsschutzes auf". Zum einen wegen des berechtigten Informationsbedürfnisses der Öffentlichkeit, zum anderen könnten Ermittlungen und Beobachtungen der Sicherheitsbehörden aber nicht öffentlich geführt werden. "Daher steht es nicht im freien Benehmen Einzelner, ob solche Informationen veröffentlicht werden oder nicht", sagte Wagner.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Hessischen Landtag, Günter Rudolph rief die Landesregierung dazu auf, zu Fehlern zu stehen und verloren gegangenes Vertrauen in den Rechtsstaat durch Transparenz zurückgewinnen. Die SPD-Fraktion habe immer wieder gefordert, dass Teile der NSU-Akten veröffentlicht werden müssten.

Vielleicht kommt noch mehr

Miki Lazar aus Kassel, der die Petition gestartet hatte, hat die Akten inzwischen durchgeschaut. Er ist etwas enttäuscht, sie enthalten weniger Inhalt als erwartet. Mit der Offenlegung der Akten hat er sein Ziel zwar erreicht, doch damit sei die Aufklärung nicht vorbei, sagt Lazar: "Ich glaube, das Thema kann damit nicht abgeschlossen sein, hier sind Menschen umgekommen." Und noch fehlen ja Stücke der Akten, die der Verfassungsschutz als verloren gemeldet hat. Vielleicht, sagt Miki Lazar, komme da ja noch was nach.

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