Insolvenz angemeldet Kasseler Schädel-Hirn-Zentrum schließt womöglich eher als erwartet
Versprochen war eine "sanfte Schließung", doch dann kamen erst kein Lohn und dann die Insolvenz. Angestellte und Angehörige sind sauer und enttäuscht. Die Leitung des hochspezialisierten Pflegezentrums verweist auf die allgemeine Lage in der Branche.
Bis Mitte Juni ist Joshua Steinmetz gerne zur Arbeit gegangen. Dann erreichten ihn Nachrichten von Arbeitskollegen, die wie er plötzlich kein Geld mehr auf dem Konto hatten. Stattdessen trudelte ein Schreiben seines Arbeitgebers ein - darin die Info, dass ein Insolvenzverfahren eingeleitet worden sei. Die finanzielle Situation habe sich in den zurückliegenden Tagen zugespitzt.
"Wir fühlen uns abserviert und respektlos behandelt", sagt Steinmetz. Der Gesundheits- und Krankenpfleger arbeitet seit 2019 im Zentrum für Schädel-Hirn-Verletzte Nordhessen (ZeHN). Das Zentrum ist eine sogenannte Phase F-Einrichtung und damit ein hochspezialisiertes Pflegezentrum für Menschen, die nach Hirnschäden dauerhafte und ständige Pflege benötigen.
Dass sein Arbeitgeber schon länger mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, war Steinmetz bekannt. Auch andere Angestellte und die Angehörigen hätten davon gewusst, erzählt der 32-Jährige. Über den Fall berichtet auch die HNA.
Ursprünglich "sanfte Schließung" angekündigt
Im März hätten alle Mitarbeitenden eine schriftliche Mitteilung über die "sanfte Schließung" der Einrichtung erhalten, so Steinmetz. Demzufolge habe das Zentrum bis zum Ende des Jahres geschlossen werden sollen. Die anschließende Mitarbeiterversammlung sei für alle zu dem Zeitpunkt "ein Schlag ins Gesicht" gewesen.
Dass es jetzt so schnell gehe, habe alle schockiert, berichtet der Pfleger. Er bemängelt vor allem die schlechte Kommunikation seitens der Geschäftsleitung. "Das geht für einen kirchlichen Träger gar nicht", kritisiert Steinmetz.
Für die Beschäftigten habe es Übernahmeangebote gegeben. Alle Angestellten sollen auf dem Campus, wo neben dem ZeHN das Diakonissen-Krankenhaus und weitere Pflege-Einrichtungen beheimatet sind, zu vergleichbaren Konditionen weiter arbeiten können.
Träger des Pflegezentrums ist die Stiftung Kurhessisches Diakonissenhaus Kassel, die weitere Pflege- und Sozialeinrichtungen wie beispielsweise Kindertagesstätten betreibt. Auf der Webseite kündigt der Träger weiterhin an, den Pflegebetrieb im Dezember 2025 einzustellen.
Zu wenig Geld - zu wenige Fachkräfte
Immer mehr Pflegeheime kämpfen um ihr wirtschaftliches Überleben. So mussten in Hessen innerhalb von zwei Jahren 38 Pflegeeinrichtungen schließen. Die Hauptgründe für die Schließungen seien in den meisten Häusern die gleichen, sagt Martina Tirre, Geschäftsführerin des ZeHN. So hätten niedrige Finanzierungssätze und der Mangel an Fachkräften zu der schwierigen Lage geführt.
Die Entscheidung zur Insolvenz bezeichnete Tirre als "das bittere Ergebnis eines langen Prozesses". Man habe jahrelang für den Erhalt gekämpft. Doch angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung sei man gesetzlich dazu verpflichtet gewesen, jetzt Insolvenz anzumelden. Zumal mit jedem Bewohner, der in einer anderen Einrichtung unterkommen konnte, weitere Einnahmen weggefallen seien.
Nur noch sechs statt 27 Patienten
Die Kritik an unzureichender Kommunikation will die Geschäftsführerin nicht gelten lassen. Nach der Entscheidung habe man alle Mitarbeiter "so zeitnah wie möglich und umfänglich informiert". Derzeit werden laut Tirre noch sechs Bewohner betreut. Ursprünglich wurden hier 27 Menschen versorgt. Ob das Zentrum nun eher schließt als erwartet, dazu wollte Tirre sich nicht äußern.
Die Geschäftsführerin sagt zu, dass man die Pflege sicherstellen werde, bis der letzte Patient den Betrieb verlassen habe. Erst dann sollen alle Betreuungs- und Arbeitsplätze wegfallen. Für die Angehörigen bringt die Lage jedoch Zeitdruck bei der Suche nach einem neuen Pflegeheim.
Vorwurf: Wohl der Patienten nicht an erster Stelle
Doch was, wenn kein geeigneter Platz gefunden wird: Müssen die Patienten dann zu Hause betreut werden? Das fragt sich auch Adem Yüksel, selbst Physiotherapeut. Seine Mutter ist seit zehn Jahren in der Einrichtung. Seit einem Hirninfarkt 2012 lebt sie mit dem Locked-in-Syndrom (LiS). Das bedeutet: Sie kann zwar alles wahrnehmen, kann sich aber weder bewegen noch kommunizieren.
Es habe sich früh gezeigt, dass es in der Einrichtung finanziell nicht gut laufe, so der 34-Jährige. In den vergangenen zwei bis drei Jahren sei gesagt worden, dass es möglichweise gar nicht weitergehe, erinnert sich Yüksel. Jetzt hat er Angst, dass bereits am 1. Juli Schluss ist, auch weil noch kein Dienstplan stehe, wie ihm Mitarbeitende berichteten.
Besonders betroffen seien Patienten, die auf Phase F-Einrichtungen angewiesen seien, warnt Yüksel: "Die müssen raus aus Kassel." Hier gebe es nämlich kein vergleichbares Angebot.
Kritik übt Yüksel vor allem an der Geschäftsführung. Er habe das Gefühl, dass das Wohl der Patienten nicht ganz oben stehe, so Yüksel: "Deshalb bin ich von der Diakonie als Einrichtung enttäuscht."
Pflegeexperte: "Hängepartie" für die Betroffenen
Generell sei die Lage für Pflegebetriebe schwierig, sagt der Pflegeexperte Stefan Arend. Er arbeitet beim Institut für Sozialmanagement und Neue Wohnformen. Pflegeeinrichtungen stünden unter einem enormen Druck.
Arend betont im Gespräch mit dem hr, wie wichtig die spezielle Pflege für Menschen mit Schädel-Hirn-Verletzungen sei. Falle die Langzeitpflege dieser Menschen weg, bedeute das eine Unterbrechung der Behandlungskette. Daher sei es "sehr schlimm und traurig", wenn eine solche Einrichtung nicht mehr zur Verfügung stehe.
Ein Problem sei auch die hohe Reglementierung in dem Bereich. Selbst wenn ein benötigter Platz frei sei, könne Personalmangel dazu führen, dass er nicht besetzt werden dürfe, sagt Arend. Für die Angehörigen bedeute das eine wahre "Hängepartie".
Derzeit gibt es in Hessen nach Auskunft der Bundesarbeitsgemeinschaft für Menschen mit erworbenem Hirnschaden (BAG Phase F) 22 vergleichbare Einrichtungen - das Zentrum in Kassel mitgezählt.
Wie lange es im Pflegezentrum an der Herkulesstraße weitergeht, ist unklar. Ihr Gehalt sollen die Mitarbeitenden demnächst bekommen. Das sagte ihnen der Insolvenzverwalter zu.
Der Pfleger Joshua Steinmetz denkt dennoch über einen Berufswechsel nach. Er ist damit nach eigener Aussage nicht allein. Auch weil er glaubt, dass eine "gute und vernünftige Pflege mit Wirtschaftlichkeit nicht vereinbar" sei. Das Übernahmeagebot des benachbarten Krankenhauses will er erst mal annehmen - weil er Menschen helfen will, wie er sagt, aber auch aus Mangel an Alternativen.