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So ergeht es einem pflegenden Angehörigen in Neu-Isenburg

Mann schiebt Frau in Rollstuhl

Die meisten Pflegebedürftigen in Hessen werden zuhause versorgt. Von ihren Partnern oder Kindern. Die Angehörigen fühlen sich häufig überfordert und wünschen sich mehr Hilfen. Aber die gibt es vielerorts gar nicht.

Erich Endres ist gerade 75 geworden. Er sitzt auf einer Parkbank in Neu-Isenburg (Offenbach), trägt Jeans, ein blaues Poloshirt und eine Jacke. Der Rentner sieht jünger aus, an diesem Morgen vor allem aber: erschöpft. "Meine Frau braucht mindestens einmal in der Nacht einen Toilettengang, dann gehe ich zu ihr, hebe sie mit einem Lifter aus dem Bett und bringe sie zur Toilette", sagt er. Manchmal passiere das zwei- oder dreimal die Nacht. "Es kann sein, dass ich dann nach nur einer Stunde wieder aus meinem Schlaf gerissen werde." Das erste Mal musste er letzte Nacht um halb vier Uhr aufstehen.

Vor dreizehn Jahren hatte Endres' Frau einen Schlaganfall und ist seitdem auf der linken Seite gelähmt. Er pflegt sie allein zuhause. Anfangs hatte er noch bei einer Bank gearbeitet. Doch Pflege und Arbeit unter einen Hut zu bekommen, war bald nicht mehr möglich. Endres ging früher in Rente, gab das zweistöckige Familienhaus in Neu-Isenburg auf und kaufte einen Bungalow.

Mehr als 370.000 Pflegebedürftige in Hessen 

"Wir bereiten am Abend immer schon alles vor, was meine Frau nach dem Aufstehen zu sich nehmen möchte, Joghurt und ein paar Haferflocken, sie kann ja mit einer Hand den Kühlschrank aufmachen", berichtet er. Wo was stehe, müsse gut durchdacht sein. "Deshalb haben wir auch dieses Haus gekauft, weil alles ebenerdig ist."

Die Frau von Endres gehört zu den insgesamt mehr als 370.000 pflegebedürftigen Menschen in Hessen. Die meisten, gut 84 Prozent, werden zuhause versorgt von ihren Partnern, Kindern und Verwandten. Oder von professionellen Pflegern. Nur wenige Pflegebedürftige werden stationär versorgt, etwa in einem Heim.

Pflegende Angehörige "fallen total hinten runter"

Einen Heimplatz zu suchen, kam für das Paar bislang nicht in Frage. "Meine Frau würde sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, in eine Pflegeeinrichtung dauerhaft einzuziehen", sagt der 75-Jährige. "Sie konnte bereits sehen, wie das abläuft." Er spielt damit auf die wenigen Urlaube in den vergangenen Jahren an, die er sich als Auszeit genommen hatte. In dieser Zeit, und auch nur, wenn die gemeinsame Tochter nicht konnte, lebte seine Frau in einer Pflegeeinrichtung.

Viele Menschen in Hessen können sich eine solche Pflegeeinrichtung gar nicht leisten. Frau Endres zum Beispiel bekommt 728 Euro Pflegegeld im Monat. Ein Platz in einem Heim kostet im Schnitt rund 3.000 Euro monatlich. "Viele politische Reformen haben sich in den vergangenen Jahren auf die stationäre Pflege konzentriert", sagt Esther Wörz vom Sozialverband VdK Hessen-Thüringen, "die pflegenden Angehörigen sind total hinten runtergefallen." Häusliche Pflege führe oft zu Armut, rund ein Fünftel der Angehörigen sei davon betroffen.

Mangel an Angeboten ist "Katastrophe" für Angehörige

Neben dem Pflegegeld stehen dem Paar noch 125 Euro zur Verfügung, mit denen sie sich Hilfen für den Alltag kaufen können. Denkbar wäre etwa eine Kurzzeitbetreuung, wenn Erich Endres selbst einmal zum Arzt müsse oder zu einer Behörde. Aber: "Dafür gibt es keine Plätze", sagt er und verliert für einen kurzen Moment seine ruhige und besonnene Art. Selbst für eine Woche finde er keine Einrichtung und müsse im Zweifel auf seine Tochter zurückgreifen. "Wir sind wie ein familiäres Unternehmen, das in sich funktionieren muss."

Esther Wörz vom VdK bezeichnet diesen Mangel an Angeboten als eine "Katastrophe" für die Angehörigen. Es müsse mehr in die Pflege investiert werden, in Plätze für Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege, in Entlastungsangebote. Da gebe es ein großes Defizit und letztlich spare die Pflegekasse Jahr für Jahr Millionen Euro ein, weil es an Angeboten in Hessen fehle.

Bewährungsprobe steht erst noch bevor

Erich Endres wirkt müde, gar verzweifelt bei so wenig Entlastung. "Wenn mir jetzt etwas zustößt, ist niemand da, der meine Frau versorgt", sagt er. Er denkt an einen Unfall oder Krankenhausaufenthalt. Kurz versagt ihm die Stimme. Er sei jetzt 75, seine Kräfte seien nicht unerschöpflich.

Obwohl schon heute viele pflegende Angehörige weitgehend auf sich allein gestellt sind, steht die Bewährungsprobe erst noch bevor. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts werden allein in Hessen in den nächsten 30 Jahren rund 160.000 Pflegebedürftige hinzukommen, das ist ein Plus von 43 Prozent im Vergleich zu heute.

Pflegevollversicherung als Reformvorschlag

Wissenschaftliche Reformvorschläge gibt es einige, zum Beispiel vom Sozialverband VdK. Die reichen bis hin zu einer Pflegevollversicherung, die alle anfallenden Kosten übernehmen würde. Doch in der politischen Diskussion dringen sie kaum durch, wie Esther Wörz kritisiert. "Ich glaube, man setzt auch ein bisschen darauf, dass mehr als 80 Prozent zuhause gepflegt werden nach dem Motto: irgendwie wird es dort geregelt werden." Die pflegenden Angehörigen seien so stark im Alltag beschäftigt, dass es "keinen großen Aufschrei gibt und die wenigsten Leute dafür auf die Straße gehen".

Erich Endres wird langsam ungeduldig, erhebt sich von der Parkbank, muss nach Hause zu seiner Frau. Heute stehen noch Arztbesuche an. Um genügend Kraft für diese Rund-um-die Uhr-Pflege zu haben, nimmt er sich kleine Auszeiten. Er liest viel, vor allem über den Finanzmarkt, sagt er, geht einmal pro Woche zum Sport und regelmäßig mit dem Hund seiner Tochter im Feld spazieren. Das erinnere ihn an seine Kindheit auf dem Land, wo er aufgewachsen sei. "Das sind schöne Erinnerungen, die bauen mich dann schon ein bisschen auf."

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