Splitscreen Drohne und eBikes

Seit nunmehr 25 Jahren trägt Darmstadt den Titel "Wissenschaftsstadt". Tatsächlich hat sich dort ein wissenschaftlich-technisches Ökosystem entwickelt, das junge Fachkräfte und Unternehmen gleichermaßen anzieht. Das zeigen zwei Erfolgsgeschichten.

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25 Jahre Wissenschaftsstadt Darmstadt

hessenschau vom 28.11.2022
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Seit 25 Jahren trägt Darmstadt den Titel "Wissenschaftsstadt", so steht es sogar auf dem Ortsschild geschrieben. Wer dieses plakative Selbstverständnis verstehen will, muss einige Jahrhunderte zurückreisen – denn Darmstadts Geschichte ist geprägt von klugen Wissenschaftspionieren.

Bekannte Wissenschaftler aus Darmstadt

So wuchs etwa der kleine Georg Christoph Lichtenberg ab 1745 in Darmstadt auf und reifte dort zu dem außergewöhnlichen Denker, der später erster deutscher Professor für Experimentalphysik wurde. Auch August Kekulé zog im 19. Jahrhundert nach seiner Kindheit und Schulzeit in Darmstadt in die weite Welt, um einmal die Grundlagen für die moderne Strukturtheorie in der organischen Chemie zu legen. Wenige Jahre zuvor lebte und wirkte der gebürtige Darmstädter Chemiker Justus Liebig in der damaligen Residenzstadt.

Im Jahr 1882 richtete die Technische Hochschule zudem den weltweit ersten Lehrstuhl für Elektrotechnik ein, den sie mit dem Physiker Erasmus Kittler besetzte. Das sind nur einige prominente Beispiele aus der reichen Darmstädter Wissenschafts-Historie.

Wissenschaftlicher Fokus nach dem Krieg

Ein für die Welt der Wissenschaft nicht annähernd so bedeutendes, für das heutige Selbstverständnis Darmstadts aber durchaus wichtiges Datum, war das Jahr 1997. Auf Wirken des damaligen Oberbürgermeisters Peter Benz (SPD) sowie des Ex-Präsidenten der Technischen Hochschule und heutigen Weltraum-Koordinators des Landes, Johann-Dietrich Wörner, verpasste sich die Stadt im Sommer den Zusatz "Wissenschaftsstadt". Profanere Begriffe, wie etwa "Hochschulstadt" oder "Universitätsstadt", wie sie auch andere Städte tragen, wären dem Darmstädter Selbstbild nicht gerecht geworden, erklärten sie damals.

Der hessische Innenminister Gerhard Bökel (li.) und Darmstadts Oberbürgermeister Peter Benz enthüllen am 4.3.1998 das neue Ortsschild "Wissenschaftsstadt Darmstadt"

"Darmstadt wollte nach dem zweiten Weltkrieg, mit dem die Zerstörung der Stadt und der Verlust des Residenztitels einherging, eine neue Identität finden", blickt der heutige Oberbürgermeister Jochen Partsch (Grüne) zurück. "Beim Wiederaufbau wollte man sich auf wissenschaftliche, technische Wirtschaftszweige konzentrieren."

Heimat großer Wissenschafts-Unternehmen

Das ist gelungen: Heute ist Darmstadt Heimat vieler internationaler Institutionen und Firmen, wie etwa Merck, Schenck, ESA, ESOC, EUMETSAT oder der Telekom. Im Norden der Stadt baut die Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) derzeit einen der größten Teilchenbeschleuniger der Welt. Der Titel "Wissenschaftsstadt" habe diese "geballte Kraft und Dynamik noch einmal sichtbar gemacht für die Menschen", so Partsch.

Die bemerkenswerte Dichte an wissenschaftlich-technischen Unternehmen in der mit nur rund 160.000 Einwohnern eher kleinen Großstadt hat zudem eine entscheidende Entwicklung begünstigt: Immer mehr junge Menschen haben sich für ein Studium im beschaulichen Darmstadt entschieden – weil Forschung und Jobs hier oft nur wenige Kilometer auseinanderliegen. Aktuell studieren rund 52.000 Menschen in der Stadt, damit hat sich die Zahl seit 1997 mehr als verdoppelt. Damals waren es nach Angaben der Stadt rund 24.500.  

Das wiederum zieht weitere Unternehmen an, weil sie hier den Zugang zu jungen und qualifizierten Fachkräften haben. In Zeiten des Fachkräftemangels ein Pfund, mit dem Darmstadt wuchern kann. "Diese Dynamik führt dazu, dass wir hier die gesamte Wertschöpfungskette von der Grundlagenforschung, über angewandte Forschung, Produktinnovation, Implementation bis hin zur Produktion auf engstem Raum haben", freut sich Oberbürgermeister Partsch.

Riese & Müller: von der Garage zum Welterfolg

Ein Nährboden, auf dem auch Erfolgsgeschichten der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit gewachsen sind – etwa die des Fahrradherstellers Riese & Müller. Das Unternehmen produziert heute E-Bikes der Oberklasse, die sich weltweit großer Beliebtheit erfreuen und sich dementsprechend gut verkaufen. "Wir haben das wissenschaftlich geprägte Umfeld immer als positiv empfunden", erklärt Mitgründer Heiko Müller im Gespräch mit dem hr.

Heiko Müller, Mitbegründer von Riese & Müller, fühlt sich in Darmstadt wohl.

Angefangen hat alles Anfang der Neunziger in einer Garage irgendwo in Darmstadt mit dem innovativen Faltrad "Birdy", 1997 startete Riese & Müller dann mit einer breiten Produktpalette richtig durch – genau in dem Jahr, als sich Darmstadt zur Wissenschaftsstadt krönte.

Dass der Edel-E-Bike-Hersteller auch 25 Jahre später noch in Darmstadt – beziehungsweise in Mühltal, wenige Kilometer vor den Toren Darmstadts – entwickelt und produziert, liegt nicht nur daran, dass Müller und sein Mitgründer Markus Riese in Darmstadt geboren sind und auch dort studiert haben.

Vor allem die Nähe zu Universität und Hochschule sei ein echter Standortvorteil, sagt Müller. "Viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wir direkt von den Hochschulen rekrutiert, gerade im Ingenieursbereich." Darüber hinaus gebe es immer wieder "wertvolle" Kooperationen und Projekte mit TU und Hochschule. Dieses Umfeld habe maßgeblich dazu beigetragen, dass sich Riese & Müller von einer Garagen-Werkstatt zum internationalen Fahrrad-Schwergewicht mit über 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickeln konnte. Müller freut sich bereits auf die nächsten 25 Jahre "im schönen Darmstadt".

Wingcopter hebt mit Hochschul-Expertise ab

Auch das Startup Wingcopter ist 2017 aus der Darmstädter Studierenden-Szene hervorgegangen und baut mittlerweile speziell entwickelte Drohnen im nur wenige Kilometer entfernten Weiterstadt (Darmstadt-Dieburg). Anfang des Jahres flatterte der erste Millionenauftrag aus den USA für den weltweit einzigartigen Wingcopter – eine Mischung aus Segelflugzeug und Propellerdrohne – herein. Seitdem hebt das Unternehmen förmlich ab.

Tom Plümmer, einer der Gründer von Wingcopter

Die Gründer Jonathan Hesselbarth, Tom Plümmer und Ansgar Kadura haben allesamt an Darmstädter Hochschulen studiert, Hesselbarth forschte und bastelte etwa in der akademischen Fliegergruppe der Technischen Universität. Zuhause entwickelte er parallel den Prototypen des Wingcopters. Mittlerweile hat das Unternehmen 160 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. "Viele kommen von der Uni, einige haben noch mit Jonathan zusammen geforscht und gebastelt", erzählt Plümmer dem hr. Auch Wingcopter will deswegen langfristig im Raum Darmstadt bleiben.

"Wir haben sehr von den Netzwerken in Darmstadt profitiert und immer viel Unterstützung bekommen", blickt Plümmer zurück. Auch die Stadt habe immer mit schnellen Lösungen geholfen, wenn es etwa um Genehmigungen oder andere bürokratische Vorgänge ging. "Für die Unterstützung sind wir sehr dankbar und bleiben gerne hier."

Erfolgreiche Wechselwirkung

Junge Fachkräfte, erfolgreiche Unternehmen, gutbezahlte Arbeitsplätze - eine Wechselwirkung, die Darmstadt in einer Studie der Wirtschaftswoche erst jüngst in die Top-Ten der dynamischsten Städte Deutschlands geführt hat. Dass Darmstadt 2017 den Bitkom-Wettbewerb "Digitale Stadt" gewann und sich seitdem auch noch Digitalstadt nennen darf, folgt dieser Logik.

Aber Oberbürgermeister Partsch blickt nicht nur zurück: "In den nächsten 25 Jahren müssen wir mit unserer Technik und unserem Wissen dazu beitragen, die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen und zukunftsfähige Technologien, aber auch Gesellschaftskonzepte zu entwickeln." Rislilienz, Klimaneutralität und neue Wohn- und Verkehrskonzepte sind nur einige seiner Stichworte.

Wer weiß, welchen Titel Darmstadt auf diesem Wege noch so verpasst bekommt. Geht es in diesem Tempo weiter, dürfte es bald eng auf dem Ortsschild werden.

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