Menschen stehen nebeneinander in Reihe und halten zwei Banner hoch. Auf einem steht: "Gießen: Der Zufluchtsort von Verfolgten darf nicht Feier- und Propagandaarena von Genozid-Diktatoren und deren Anhänger werden".

Randale und verletzte Polizisten in Gießen, eine Massenschlägerei in Frankfurt. Zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung Eritreas eskaliert in Hessen immer wieder die Gewalt. Ein Ethnologe erklärt im Interview die Hintergründe der Zusammenstöße.

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Zwei Festnahmen nach Schlägerei in Frankfurt

Polizist von hinten
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Eritrea mag weit weg sein, der Konflikt zwischen Anhängern des Regimes in Asmara und Oppositionellen hingegen nicht. Erst eskalierte vor zwei Wochen der Protest gegen das von Regierungsanhängern organisierte Eritrea-Festival in Gießen zur Straßenschlacht mit 26 verletzten Polizisten, dann folgte am vergangenen Wochenende eine Schlägerei bei einem Treffen von Regierungskritikern im Frankfurter Stadtteil Gallus.

Magnus Treiber ist Professor am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sowohl in seiner Promotion als auch in seiner Habilitation befasste er sich mit der gesellschaftlichen Situation in Eritrea - unter anderem auch mit den Ursachen von Flucht und Migration.

hessenschau.de: Herr Treiber, wenn in der deutschen Berichterstattung von Eritrea die Rede ist, fallen gerne Stichwörter wie "das Nordkorea Ostafrikas". Ist das eine zutreffende Beschreibung oder eine Übertreibung?

Magnus Treiber: Es ist ein schiefes Bild. Das geht ursprünglich auf ein Ranking zur Pressefreiheit weltweit zurück. Da stehen Eritrea und Nordkorea notorisch am Ende der Tabelle. Tatsächlich aber gibt es zahlreiche Unterschiede. Nicht zuletzt die Anbindung an den Rest der Welt. Der Weltanschluss Eritreas ist wesentlich ausgeprägter - auch im ökonomischen Sinne - als der Nordkoreas.

hessenschau.de: Trotzdem gilt es als eines der repressivsten Regime der Welt.

Treiber: Das kann ich bestätigen.

hessenschau.de: Es sind vor allem relativ junge Männer, die aus Eritrea fliehen und versuchen, sich nach Europa durchzuschlagen. Ein Grund ist der Militärdienst.

Oberkörper/Kopf eines Mannes, der draußen steht und in die Kamera schaut.

Treiber: Der Hintergrund lässt sich nur schwer in Kürze zusammenfassen. Eritrea wurde in den 1990er-Jahren unabhängig durch den Sieg der Eritreischen Volksbefreiungsfront - EPLF. Deren Generalsekretär, Isayas Afewerki, wurde erster und bislang einziger Präsident des Landes.

Das "Projekt Eritrea" hatte allerdings sehr umfassende Ziele - mehr als nur die nationale Unabhängigkeit von Äthiopien. Dazu zählten: Bildung, Emanzipation der Frau, Prosperität. Das sollte umgesetzt werden, indem die junge Generation in die Erfahrung der Guerilla einbezogen wird. Die Idee war: Die junge Generation sollte etwas für das Land tun, in den Aufbau und die Reform einbezogen werden. Daraus entstand der "National Service".

Geblieben ist davon nur die militaristische Variante. Der "National Service" bindet alle jungen Menschen des Landes in das Militär ein, sodass man von einer fortgesetzten Generalmobilmachung sprechen kann. Die hat es ermöglicht, dass Eritrea eine Art Söldnerstaat geworden ist. Die Bevölkerung ist generalmobilisert - so ähnlich wie im antiken Sparta.

hessenschau.de: Was bedeutet das für die Menschen konkret?

Treiber: Alle jungen Männer und Frauen müssen den nationalen Dienst ableisten. Der dauert offiziell 18 Monate. In der Realität wird man aus diesem Dienst praktisch nie entlassen. Man kann jederzeit wieder mobil gemacht werden. Das ist zuletzt passiert, als sich Eritrea im Tigray-Konflikt in Äthiopien engagiert hat - wo es für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich war.

hessenschau.de Welche Aktivitäten entfaltet das eritreische Regime in Deutschland? Welche Bedeutung haben Veranstaltungen wie das Eritrea-Festival in Gießen?

Treiber: Für die Regierung sind solche Auslandsfestivals von zentraler Bedeutung. Zum einen soll ein positives Bild von Eritrea vermittelt werden - als Gegenentwurf zu der üblichen medialen Berichterstattung. Zudem wird dadurch die Diaspora eingebunden in das "Projekt Eritrea".

Dann gibt es aber auch noch ganz konkrete materielle Interessen. Die Regierung sammelt über diese Festivals Geld. Das ist nicht unerheblich für ein Land, das aufgrund von Sanktionen Probleme hat, an Devisen zu kommen. Diese Festivals sind also von großer Bedeutung für das Wirken der eritreischen Regierung in der Diaspora. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sie auch zum Ziel von Angriffen werden.

hessenschau.de: Regimegegner berichten von Erpressungen, politische Gegner würden hierzulande von eritreischen Behörden und Anhängern der Regierung überwacht, bedroht und ihre Angehörigen in Eritrea eingeschüchtert. Sind Ihnen solche Fälle bekannt?

Treiber: Sicherlich erstatten Regierungsunterstützer Bericht über Individuen, politische Gruppen und Aktivitäten der eritreischen Diaspora. Überwachung ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen.

Tatsächlich funktioniert die Kontrolle der weltweiten eritreischen Diaspora vor allem über in Eritrea verbliebene Verwandtschaft, die damit zum Faustpfand der Regierung wird, sowie über den restriktiven Zugang zu konsularischen Diensten und im Ausland benötigten Dokumenten wie Geburtsurkunden, Ausweise und Zeugnisse. Diese Möglichkeit hat nur, wer eine erhebliche Auslandssteuer aufbringt und sich im Falle einer Flucht förmlich der illegalen Ausreise bezichtigt.

hessenschau.de: Ist es Zufall, dass die Konflikte innerhalb der Diaspora gerade hier in Hessen so hochkochen?

Treiber: Man muss verstehen, dass die Anfänge der eritreischen Diaspora bis in die 1980er zurückreichen. Damals flohen die Menschen noch vor dem Krieg mit Äthiopien, zu dem Eritrea offiziell ja noch gehörte. Äthiopische Staatsbürger benötigten kein Visum, um nach Deutschland zu kommen. Daraus haben sich Diaspora-Zentren entwickelt.

Hessen ist eines davon, was im Wesentlichen am Frankfurter Flughafen und der internationalen Anbindung liegt. Und diese Zentren beherbergen sowohl Anhänger der Regierung als auch der Opposition.

hessenschau.de: In der Diaspora gibt es also eine organisierte Opposition gegen das Regime in Asmara. Wie schätzen Sie das Kräfteverhältnis ein?

Treiber: Die Oppositionskräfte sind reichlich zersplittert. Da gibt es eine ganze Reihe von Gruppierungen, die sich mitunter schwer tun, zusammenzuarbeiten. Es gibt jedoch immer wieder Versuche, die Opposition zu vereinen - etwa im Dachverband Uniting Eritrean Voices in Germany. Ein Teil der Oppositionellen gehörte Organisationen an, die in Konkurrenz zur EPLF standen. Andere sind ehemalige Anhänger des Regimes, die sich losgesagt haben.

Was die Kräfteverhältnisse angeht: Die loyalistische Fraktion hat inzwischen auch Nachwuchsprobleme. Aber viele Menschen in der Diaspora schweigen einfach. Nicht zuletzt, weil sie Nachteile für ihre Verwandten in Eritrea fürchten oder Angst haben, nicht mehr nach Eritrea einreisen zu können.

hessenschau.de: Die Gewalt zwischen den Anhängern der Regierung in Asmara und ihren Kritikern scheint in den letzten Monaten verstärkt zu eskalieren. Gibt es dafür bestimmte Gründe?

Treiber: Friedliche Proteste blieben eben bisher erfolglos und haben es nicht mal in die Medien geschafft. Was aber schafft es in die Medien? Gewalt. Dadurch sind die Proteste auf einmal sichtbar geworden.

Bedenken Sie auch: In Eritrea gibt es keine Möglichkeit des Protests oder des demokratischen Diskurses. Der Frust der Regime-Kritiker sucht sich ein Ventil. Vor allem, wenn sie sehen, dass die Regierung hier in der Diaspora Rechte in Anspruch nimmt - etwa Kulturfestivals zu veranstalten - die sie ihren Kritikern in der Heimat verweigert.

Das Gespräch führte Danijel Majić.

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