Gefahr durch Geldautomaten in Wohngebäuden "Ich weiß nicht, wie wir ruhig schlafen sollen"
Noch Monate nach der Sprengung eines Geldautomaten in ihrem Wohnhaus kämpft eine Familie mit den psychischen Folgen. Jetzt will die Sparkasse ein neues Gerät installieren - obwohl inzwischen auch die Polizei davor warnt, Automaten in Wohngebäuden aufzustellen. Die Familie hat Angst, dass die Angst wiederkehrt.
In der Nacht zum 20. Juni wird Familie Dorn in Bickenbach (Darmstadt-Dieburg) von lauten Schlaggeräuschen aus dem Schlaf gerissen. Aus dem Fenster beobachten die Eltern Sonja und Johannes zusammen mit ihrer zweijährigen Tochter, wie um drei Uhr morgens zwei vermummte Gestalten in die Sparkassen-Filiale unter ihrer Wohnung laufen. Danach gibt es einen ohrenbetäubenden Knall.
Die Dorns haben soeben live miterlebt, wie der Geldautomat der Sparkasse quasi direkt unter ihren Füßen mit Sprengstoff in die Luft gejagt wurde. "Es war ein sehr lauter Knall, die Wohnung hat gewackelt. Aus dem Fenster haben wir die Druckwelle gesehen und wie die Splitter durch die Gegend geflogen sind", schildert der Vater die Geschehnisse der Nacht. "Durch den Nebel sind die zwei Täter dann zum Auto gelaufen und geflüchtet."
Nach Eintreffen der Polizei muss die Familie ihre Eigentumswohnung verlassen, Einsatzkräfte prüfen daraufhin, ob eventuell weitere Sprengsätze im Gebäude sind oder ob sogar Einsturzgefahr besteht. Erst am Nachmittag können das Kleinkind und ihre Eltern wieder in die Wohnung zurückkehren.
Familie kämpft mit Folgen der Tat
Doch seitdem ist vieles anders, bis heute kämpft die Familie mit den Folgen der traumatischen Nacht. Besonders bei der damals zweijährigen Tochter haben die Ereignisse Spuren hinterlassen. "In den ersten Monaten nach der Tat war sie sehr anhänglich und ist sofort erschrocken, wenn nur ein Auto vorbeigefahren ist. Gegenüber fremden Menschen reagiert sie seitdem sehr ängstlich", schildert Mutter Sonja. Den Knall, die Erschütterung, die Evakuierung, die vielen Einsatzfahrzeuge – all das habe das Kind "voll mitbekommen".
Auch die Eltern konnten eine Zeit lang schlecht schlafen. "Wir sind immer zusammengezuckt, wenn irgendwo eine Autotür zugeschlagen wurde", so Sonja Dorn. Nicht nur in den Wänden der Wohnung hat die Geldautomatensprengung Risse hinterlassen, sondern auch in der Psyche von Familie Dorn. Deswegen zögerte Johannes Dorn nach der Tat auch nicht, die Sparkasse direkt zu kontaktieren: "Wir haben nach der Sprengung gebeten, keinen Automaten mehr in diesem Wohngebäude aufzustellen."
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Sparkasse stellt neuen Automaten auf
Ein Wunsch, der unerfüllt bleibt. In der Filiale, die schwer beschädigt war und aktuell wieder aufgebaut wird, steht bereits ein neuer Geldautomat bereit. "Auf den Automaten können wir an dieser Stelle nicht verzichten", sagt Peter Lehr, Sprecher der Sparkasse Darmstadt, dem hr. Die Sparkasse habe sich die Lage in Bickenbach nach der Sprengung genau angeschaut und stehe auch mit dem Landeskriminalamt im Austausch. "Dort gibt es eine spezielle Arbeitsgruppe, die sich mit Gefahrenanalysen der einzelnen Standorte beschäftigt", erklärt Lehr.
Warum die Sparkasse die Gefahr trotz der heftigen Sprengung als so gering einstuft, dass sie dort wieder einen Geldautomaten installiert, weiß wohl nur das Geldinstitut selbst. Eine Nachfrage von Familie Dorn von Ende Juli blieb bis dato unbeantwortet. Dass Lehr die Filiale in Bickenbach als "geostrategisch wichtigen Standort in unserem Filialsystem" bezeichnet, mag ein Erklärungsansatz sein. Aus betriebswirtschaftliches Sicht ist ein Standort in einem Wohngebiet lukrativer.
Zumindest verspricht Lehr, man wolle in Bickenbach "in Sachen Sicherheit" eine Schippe drauflegen. Dazu gehöre unter anderem, den Zugang zum Foyer, wo sich der Automat befindet, einzuschränken. Die Sparkasse Darmstadt glaubt, somit potenzielle Täter abschrecken zu können. "Wir können die Emotionen der Anwohner nach solch einem traumatischen Erlebnis verstehen und wollen den Menschen in Bickenbach damit ein Höchstmaß an Sicherheit bieten."
Dorn fordert Automaten nur noch in Gewerbe-Gebäuden
Aber Johannes Dorn und seine Familie fühlen sich nicht mehr sicher. Er bezweifelt, dass sich die Sparkasse tatsächlich um die Anwohner sorgt: "Bis heute hat sich niemand nach uns erkundigt oder ist hier aufgetaucht." Dass Geldautomaten in Wohngebäuden aufgestellt sind, sei ein generelles Problem, sagt er. "Die Sprengungen nehmen immer mehr zu und die Banken haben ihre Automaten teilweise gegen Attacken mit Gas gesichert."
Kriminelle seien deswegen – wie in Bickenbach – dazu übergegangen, Festsprengstoffe zu benutzen. Jüngstes Beispiel dafür ist die Sprengung in Breuna (Kassel). Dort war in der Nacht zum Montag die Explosion so heftig, dass Teile der Fassade bis auf die gegenüberliegende Straße geflogen sind.
"Die Festsprengstoffe verursachen wesentlich mehr Schaden und es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis auch Personen körperlich zu Schaden kommen", fürchtet Dorn. Er fordert deswegen, dass Automaten künftig nur noch in gewerblichem Umfeld aufgestellt werden.
LKA sieht Gefahr für Leib und Leben
Eine Einschätzung, mit der er nicht alleine steht. Das von Lehr bereits angesprochene Landeskriminalamt (LKA) ist der Auffassung, dass von Geldautomaten in Mischgebäuden, also Gebäuden, in denen Menschen wohnen und arbeiten, "eine erhöhte Gefahr für Leib und Leben" ausgeht, wie Polizeihauptkommissarin Virginie Wegner dem hr sagt. Seit etwa Ende 2019 hätten die Fälle, in denen Täter statt Gas auf feste Explosivstoffe zurückgreifen, massiv zugenommen. Aktuell seien es fast 80 Prozent der Sprengungen.
Oft sei es nur vom Zufall abhängig, dass dabei keine unbeteiligten Passanten oder Anwohner verletzt oder gar getötet werden, erklärt das LKA. Nicht umsonst prüfen die Staatsanwaltschaften bei Sprengungen in Wohngebieten immer, ob es sich um ein versuchtes Tötungsdelikt handelt. Auch das Schadensbild habe sich laut Wegner durch den Einsatz von Festsprengstoffen stark verändert. Immer mehr Versuche führten zum Erfolg, zudem seien die Schäden an den Gebäuden "enorm". Der Gesamtschaden in diesem Jahr belaufe sich demnach auf über fünf Millionen Euro, das gestohlene Geld mache davon gerade einmal knapp über eine Million Euro aus.
Die Deutsche Kreditwirtschaft (DK), Dachverband der Banken und Sparkassen, sieht die Geldinstitute vor die schwierige Aufgabe gestellt, einerseits die Bargeldversorgung der Bevölkerung sicherzustellen und auf der anderen Seite die Gefahr durch vermehrte Sprengangriffe zu verringern. Dazu erfolgten "kontinuierliche Risikoanalysen" in Zusammenarbeit mit den Polizei-Behörden. Daraus könnten auch Standortschließungen resultieren, wie die DK auf Anfrage mitteilt.
Commerzbank verzichtet auf Automaten in Wohngebäuden
Teilweise gehen die Banken aber bereits deutlich weiter. Die Commerzbank etwa hat aufgrund des Risikos für Bewohner an Standorten von Geldautomaten nach eigenen Angaben beschlossen, generell keine Geldautomaten mehr in Wohngebäuden einzurichten.
Die Sparkasse Darmstadt will aber auch in Zukunft von Fall zu Fall entscheiden, ob und wo Geldautomaten aufgestellt werden. In Bickenbach ist die Entscheidung bereits gefallen, der Automat kommt wieder. Johannes Dorn fürchtet, dass damit auch die Angst wiederkommt: "Ich weiß nicht, wie wir dann noch ruhig schlafen sollen."
Sendung: hr3, 04.11.2022, 17.40 Uhr
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