Grafische Darstellung einer in der Ecke auf dem Boden sitzende Frau, die sich zum Schutz ihre Hand vor das Gesicht hält.

Ende November wurde eine Frau in Darmstadt mutmaßlich von ihrem Ex-Partner erstochen. Sie hatte Hilfe in einer Selbsthilfegruppe gesucht. Die Gründerin der Gruppe, Svenja Beck, spricht im Interview über die eskalierende Gewalt gegen Frauen.

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Ermittlungen nach mutmaßlicher Tötung in Darmstadt

Ermittler vor dem Haus im Darmstädter Johannesviertel, in dem die 30-Jährige gefunden wurde.
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Ende November wurde die 30 Jahre alte Judith S. mit schweren Stichverletzungen in ihrer Wohnung in Darmstadt gefunden. Sie starb noch vor Ort. Kurz später wurde ihr Ex-Freund festgenommen, bei ihm wurde ein Messer gefunden. Judith S. ist eine von vielen: Im Schnitt stirbt in Deutschland fast jeden dritten Tag eine Frau durch die Hand ihres Partners oder ihres Ex-Partners. Bevor Judith S. starb, hatte sie Hilfe gesucht.

Sie war in einer Facebook-Gruppe für Betroffene aktiv. Die Gruppe hat Svenja Beck aus Südhessen im Mai 2020 gegründet, nachdem sie selbst jahrelange Gewalt durch ihren Ex-Partner und zwei Femizid-Versuche überlebt hatte. Mittlerweile macht Beck Aufklärungsarbeit, spricht in den Medien über ihre Geschichte. Sie hat neben der Facebook-Gruppe mehrere Selbsthilfegruppen gegründet, wo sich Betroffene persönlich austauschen können.

Die digitale Gruppe, in der auch Judith S. war, hat mittlerweile rund 9.000 Mitglieder, hauptsächlich Frauen, es gibt aber auch einige Männer. Dort können sich Betroffene austauschen und Informationen finden. Es ist nicht der erste Femizid an einer Frau, die in der Selbsthilfegruppe aktiv war, erzählt Svenja Beck im Interview.

hessenschau.de: Frau Beck, wie haben Sie vom Tod von Judith S. erfahren?

Svenja Beck

Svenja Beck: Ich habe die Todesanzeige gelesen. Bei dem Namen dachte ich, das gibt es doch nicht. Sie war seit einigen Monaten in unserer Facebook-Selbsthilfegruppe. Ich habe meine Administratorinnenkolleginnen informiert, wir fallen da wirklich erst mal in eine Schockstarre. Für uns ist das ganz, ganz schlimm.

Das ist der dritte Femizid in einem Jahr in unserer Gruppe. Ich habe das Gefühl, es ist immer schwerer auszuhalten, es macht immer mehr mit einem.

hessenschau.de: In Ihrer Facebook-Gruppe sind mittlerweile rund 9.000 Betroffene. Hatten Sie auch einen persönlichen Kontakt zu der Getöteten?

Beck: Nein, aber ich mache einmal die Woche Videos zu verschiedenen Themen und habe gesehen, dass sie die geliked hat. Das Gefühl kann ich schwer beschreiben: Zu wissen, dass ein Mensch, der bei mir Hilfe gesucht und erhofft hat, sein Leben verloren hat, ist kaum auszuhalten. Ich muss das auch mit professioneller Supervision aufarbeiten.

hessenschau.de: In Ihrer Gruppe wird offen mit dem Thema umgegangen. Sie haben die Nachricht von den drei Femiziden mit allen geteilt. Was löst das aus bei Betroffenen, die selbst Gewalt erlebt haben oder immer noch erleben?

Beck: Zum einen möchte ich der Verstorbenen Respekt zollen und zeigen, dass es nicht nur um Fakten geht: Wer, wie, was und sie war 30 Jahre alt - sondern dass sie einen Namen hat und eine von uns ist. In der Gruppe gibt es sehr viel Bestürzung, aber es ist auch ein Warnhinweis: Das Ganze ist nicht zu unterschätzen, und man befindet sich in einer gefährlichen Lage in so einer Beziehung oder wenn man gerade aus einer solchen Beziehung herausgekommen ist.

Das ist vielen nicht bewusst, mir war es damals auch nicht klar. Das ist etwas, was in der Situation selbst nicht so gefährlich aussieht. Den Betroffenen wird das bei solchen schlimmen Nachrichten bewusst, wenn es eine Frau in unserer Gruppe trifft.

hessenschau.de: Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass die Gewalt gerade dann eskaliert, wenn die Frau sich wehrt und Hilfe sucht, sich trennt oder den Täter anzeigt. Ist das eine Erfahrung, die Sie bestätigen können?

Beck: Ja, absolut, das sind die großen Risiken. Das ist der Machtverlust, den der Partner hat, und das macht ihn extrem gefährlich. Bei Narzissten und auch anderen löst das eine komplette Wut und Machtlosigkeit aus. Und im Fall von Judith S. muss ja vorher auch schon etwas vorgefallen sein, sonst wäre sie vor dem Femizid nicht schon mehrere Monate in unserer Gruppe gewesen.

hessenschau.de: Sie halten Vorträge vor Politikern und Politikerinnen. Vor kurzem waren Sie bei einer Justiz-Fachtagung in Bremen eingeladen. Da kam eine Frage, die Sie häufiger hören: Was brauchen die Betroffenen? Was antworten Sie?

Beck: An erster Stelle: Sie wollen ernst genommen werden. Dass es kein Glücksspiel ist, an welchen Richter oder Polizisten man gerät, sondern dass wirklich ernst genommen wird, was passiert. Die Geschichten sind oft ganz heftig, dann denkt das Gegenüber, da würde etwas interpretiert oder dazuerfunden, aber das ist nicht der Fall.

Die Geschichten laufen genau so ab, und wenn man etwas Erfahrung hat, dann sieht man auch, dass diese Geschichten immer ähnlich ablaufen. Da würde ich mir für die Frauen wünschen, dass sie ernst genommen und gleichzeitig nicht unter Druck gesetzt werden.

hessenschau.de: Ändert sich denn gerade etwas in der Gesellschaft beim Umgang mit Gewalt gegen Frauen und in Partnerschaften? In den Medien ist das Thema zuletzt stärker in den Fokus gerückt.

Beck: Ich sehe nur, dass darüber gesprochen wird. Ich merke aber, dass seitens der Politik nicht viel kommt. Es wird viel um den heißen Brei geredet. Im letzten Jahr gab es eine hr-Doku über mich, da hatte Nancy Faeser (mittlerweile Bundesinnenministerin, SPD, Anm. d. Redaktion) gesagt, dass ich vielleicht in Polizeischulen sprechen darf - jetzt sind eineinhalb Jahre rum, da ist nichts passiert.

Ich glaube aber, genau solche Vorträge könnten in den Köpfen etwas ändern. Das erlebe ich, wenn ich eingeladen werde, um über das Thema zu berichten. Ich hatte zuletzt auch vor Familienrichtern geredet. Die haben gesagt, was ich als Betroffene erzählt habe, habe wirklich etwas in ihrer Wahrnehmung des Themas geändert.

hessenschau.de: Gibt es denn Momente, in denen Sie bei der Vereinsarbeit und im Kontakt mit Betroffenen merken, dass Sie helfen konnten? Gibt es also neben dem ganzen Leid, das Sie mitbekommen, auch Erfolgserlebnisse?

Beck: Total, sehr oft. Viele schreiben: Danke für mein neues Leben, ich bin rausgekommen. Wenn eine Frau nach 35 Jahren Ehe zu mir kommt und sagt: "Ich habe deine Videos gesehen und ich habe mittlerweile eine neue Wohnung und bin geschieden" - das ist für mich unbeschreiblich.

Manche schicken Fotos, um zu zeigen, wie gut es ihnen jetzt geht. Das löst viel bei mir aus. Und was für uns auch wichtig ist: Wir können ein Netzwerk bieten, um den Betroffenen Halt zu geben. Es ist für uns sehr wichtig zu spüren, dass wir Menschen in den Selbsthilfegruppen vor Ort und der virtuellen Gruppe aus ihrer Situation heraushelfen können.

Wir üben keinen Druck aus, das ist wichtig. Wir geben jedem eine Chance. Wir nennen es "Ehrenrunden", wenn jemand zurückgeht in die Beziehung, aber auch wieder kommt. Manchmal dauert es. Aber ich sehe auch, wie Menschen aufblühen, wenn sie es geschafft haben.

Das Interview führte Sonja Süß.

Weitere Informationen

Hilfe für Betroffene

Der von Svenja Beck mitgegründete Verein T.o.B.e (Toxische Beziehungen überwinden) bietet auf seiner Internetseite Informationen und eine Liste mit Anlaufstellen für Betroffene von Gewalt. Dort findet sich auch eine Liste der Selbsthilfegruppen des Vereins.

Wenn Sie als Frau von häuslicher Gewalt betroffen sind, können Sie rund um die Uhr kostenfrei das Hilfetelefon anrufen unter der Nummer 08000/116016 oder hier Beratung und Hilfe finden. Der Weiße Ring hilft Opfern von Gewalt. Auch Männer, die ein Aggressions- und Gewaltproblem haben, können (frühzeitig) Hilfe und Beratung bekommen. In der "Wegweiser"-Broschüre der Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt werden Anlaufstellen in Hessen aufgelistet.

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