Psychotherapie

Depressionen, Angststörungen, Burn-out: Immer mehr Menschen in Hessen leiden unter einer psychischen Erkrankung. Betroffene warten oft monatelang, um einen Therapieplatz zu bekommen. Dabei gibt es eigentlich genug ausgebildete Therapeuten.

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Patienten müssen bis zu neun Monate auf eine Psychotherapie in Hessen warten

Symbolbild: Ein Ausschnitt eines Überweisungsscheins vom Arzt auf dem "PSychotherapie" als Behandlungsmaßnahme angekreuzt ist.
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Kai aus Offenbach (vollständiger Name der Redaktion bekannt) kämpft seit zwei Jahren gegen eine schwere Last an: Depressionen und Angststörungen. Hinter dieser Last verbirgt sich eine tragische Familiengeschichte. "Ich habe als Kind beide Elternteile verloren. Sie haben Selbstmord begangen, weil sie unter Schizophrenie litten. Das ist die Hauptursache für meine Erkrankung", erzählt der 26-Jährige.

Mit seinen seelischen Wunden und Erinnerungen musste Kai lange alleine klarkommen. Denn trotz seines äußerst schweren Schicksals erfuhr er zunächst unzählige Abweisungen auf seiner Suche nach einem Therapieplatz.

Mann mit blonden Haaren

"Ohne übertreiben zu wollen, es waren bestimmt 60 oder 70 Therapeuten, die ich angerufen habe", erzählt er. Wenn man so stark an Depressionen leide, sei es äußerst kräftezehrend, auch nur einen Therapeuten anzurufen.

Lange Wartezeiten auf Therapie in Hessen

Kai ist mit seinem Problem nicht alleine. In ganz Hessen fällt auf, wie wenig Therapieplätze von der Krankenkasse gestellt werden.

Nach Angaben der hessischen Psychotherapeutenkammer beträgt die durchschnittliche Wartezeit für eine Psychotherapie 14 bis 16 Wochen. Der Sozialverband VdK spricht sogar von sechs bis neun Monaten. Diese Wartezeit kann für Menschen wie Kai, die phasenweise mit Suizidgedanken kämpfen, lebensbedrohlich sein.

Bedarfsplanung aus den 90er-Jahren

Das Paradoxe: Laut dem "Report Psychotherapie 2021" der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung gibt es eigentlich genügend Therapeuten in Deutschland, etwa 34.000. Allerdings haben nur rund 15.000 von ihnen einen Kassensitz und dürfen damit gesetzlich Versicherte behandeln.

Die Zahl der Sitze legt ein Ausschuss in der Bedarfsplanung fest. Dazu gehören unter anderem Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen.

Portrait Heike Winter

Doch die Realität passe mit der Bedarfplanung teilweise nicht zusammen, erklärt Heike Winter, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen. "Die Bedarfsplanung stammt aus dem Ende der 90er-Jahre. Diese wurde als Basis festgelegt, die ausreicht und wurde seitdem nicht mehr angefasst."

"Systemversagen" im Gesundheitswesen

Für Psychotherapeut Michael Ruh aus dem nordhessischen Frankenberg (Eder) liegt das Problem an einer falschen Priorisierung: "Die Frage ist, wofür die Politik und die Krankenkassen das Geld ausgeben möchten - und da steht die psychotherapeutische Behandlung tatsächlich etwas im Schatten."

Dabei leiden 30 Prozent der Deutschen laut einer repräsentativen Studie des Robert-Koch-Instituts an einer psychischen Erkrankung. Relevanz kann man dem Thema nicht absprechen.

Philipp Stielow vom Sozialverband VdK spricht sogar von einem "Systemversagen". Wer in ländlichen Regionen oder in Stadtteilen mit wenig reichen Menschen lebe, leide besonders, "weil es da in der Regel weniger Fachärzte gibt als an Orten, wo viele Privatversicherte oder vermögende Menschen leben. Das ist einfach ein strukturelles Problem", klagt Stielow.

Psychotherapeutenkammer fordert Verbesserungen

Die Psychotherapeutenkammer Hessen fordert deshalb dringend mehr beziehungsweise verlängerte "Ermächtigungen". Dabei handelt es sich um vorübergehende Kassenzulassungen in speziellen Fällen. Auch eine erleichterte Kostenerstattung für Patienten in Privatpraxen wird verlangt, da dies derzeit oft kompliziert sei.

Zudem plädiert die Kammer für 1.400 weitere Sitze in Deutschland. "Die Wartezeiten sind flächendecken zu lang. Es ist nicht wie beim Hausarzt. Bei der Suche nach einer Psychotherapie muss man wirklich Klinkenputzen. Gerade für Menschen mit Depressionen ist es schwer, ständig Absagen zu hören", so Kammer-Präsidentin Winter.

KV sieht kein generelles Problem

Während Psychotherapeuten in Hessen dringend auf Verbesserungen pochen, sieht die Kassenärtzliche Vereinigung (KV) das Problem nicht ganz so gravierend. "Wir nehmen wahr, dass es klemmt. Aber wir erkennen kein flächendeckendes Versorgungsproblem in Hessen", sagt Karl Roth, Sprecher der KV Hessen, dem hr. Engpässe gebe es vor allem auf dem Land.

Dennoch plant die Bundesregierung verschiedene Maßnahmen zur Verbesserung: Eine Aufklärungskampagne soll dazu beitragen, psychische Erkrankungen zu enttabuisieren. Außerdem soll die psychotherapeutische Bedarfsplanung reformiert werden, um Wartezeiten zu verkürzen, besonders für Kinder und Jugendliche und auf dem Land.

Auch die ambulante Versorgung soll verbessert werden, insbesondere für Patienten mit schweren und komplexen Erkrankungen. Eine Erhöhung des Personals in der stationären Behandlung sowie eine flächendeckende Verbesserung der Notfall- und Krisenversorgung sind ebenfalls Teil der geplanten Maßnahmen.

Kai: "Therapie gibt mir nötige Struktur im Leben"

Wie lange es dauern wird, bis sich die Lage der Psychotherapieversorgung in Hessen spürbar verbessert, bleibt offen.

Zumindest Kai hat nach langer Suche nun endlich einen Therapieplatz gefunden. Die regelmäßigen Sitzungen würden ihm eine Struktur im Leben geben, die er brauche, um sein Studium zu beenden.

Der Offenbacher hofft, dass es zu Reformen kommt und Menschen offener über ihre psychischen Erkrankungen reden können. Er selbst habe darüber nur mit seinen engen Freunden sprechen können. "In der Gesellschaft ist das immer noch teilweise stark stigmatisiert und ein Tabuthema. Das muss sich ändern, sonst driftet man als Betroffener nur noch mehr ab."

Weitere Informationen

Hilfe bei Suizidgedanken

Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Letztere können mit professioneller Hilfe gelindert und auch geheilt werden. Hier finden Sie Hilfsangebote für Betroffene und Angehörige.

Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr kostenfrei und anonym erreichbar unter der bundeseinheitlichen Telefonnummer: 0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222.

Um die Anonymität der Anrufer zu wahren, ist die Übermittlung der Rufnummer gesperrt und wird somit in keinem Display der Telefonseelsorge angezeigt. Anrufe bei der Telefonseelsorge werden auch im Einzelverbindungsnachweis nicht aufgeführt.

Auch im Internet kann die Telefonseelsorge kontaktiert werden unter: telefonseelsorge.de

Weitere Informationen zu Hilfsangeboten - beispielsweise Selbsthilfegruppen - finden sich auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: suizidprophylaxe.de

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