Legasthenie und Dyskalkulie Wenn die Wörter beim Lesen auseinanderfallen

"Die Lehrer haben mich abgestempelt": Eine Frau aus dem Vogelsberg berichtet über ihr Leben mit Legasthenie. Betroffene der Lese- und Rechtschreibstörung kämpfen mit Vorurteilen, Verbände erneuern ihre Forderung nach besserer Unterstützung.

Kind vor einer Tafel mit der Aufschrift "Lesen"
Die Legasthenie ist eine gravierende Lernstörung. Bild © picture-alliance/dpa
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Es gab Lehrer, die hatten ihr Urteil über Simone Appel schnell gefällt. "Die sagten: Du kannst nicht gut lesen und schreiben, du bist dumm", erzählt die heute 43-Jährige aus Feldatal (Vogelsberg). Ab der dritten Klasse waren ihre Noten schlechter geworden, sie las nur sehr langsam und stockend. Auch das Schreiben machte ihr große Probleme.

Da sie zu Hause beim Fernsehschauen immer näher an das Gerät heranrückte, gingen ihre Eltern zunächst davon aus, dass sie schlecht hörte. Nach einer langen Ärzte-Odyssee kam schließlich heraus: Simone Appel leidet an einer Lese-Rechtschreibstörung, auch Legasthenie genannt.

Legasthenie und Dyskalkulie

Die Legasthenie ist eine gravierende Lernstörung. Es gibt mehrere Begriffe, die oft synonym benutzt werden, dieser Text orientiert sich am Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie, der Lese-Rechtschreib-Störung und gleichbedeutend den Begriff Legasthenie verwendet.

Eine Legasthenie ist nicht zu verwechseln mit einer Rechenstörung, der sogenannten Dyskalkulie, bei der Menschen beim Erlernen des Rechnens ausgeprägte Schwierigkeiten haben. In diesem Text geht es der Einfachheit halber um Legasthenie.

Ursache für Legasthenie: Verarbeitungsstörung im Gehirn

"Beim Lesen fallen die Wörter vor meinen Augen auseinander", erklärt sie. "Wenn ich in der Schule vorlesen musste, habe ich Wörter ausgelassen und andere einfach hinzugefügt."

Noch sind die Ursachen von Legasthenie nicht restlos geklärt, neusten Forschungen zufolge haben betroffene Menschen eine Funktionsstörung im Gehirn. Die Folge: "Sie können Bilder von Worten nur schlecht abspeichern", erklärt Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie.

Legasthenie-Diagnose über standardisierte Fragebögen

Lange war die Diagnose schwierig. Simone Appel musste dafür Ende der 1980er Jahre unzählige Tests hinter sich bringen. "Zwischendurch hat man zum Beispiel versucht, bei mir Epilepsie auszulösen, ich lag in einem dunklen Raum und musste in flackerndes Licht gucken", erzählt Appel. "An diese Zeit habe ich auch schlimme Erinnerungen."

Inzwischen gibt es unter anderem standardisierte Fragebögen, die zusammen mit einem IQ-Test und einem Blick auf das Umfeld des Kindes eine recht sichere Diagnose ergeben. Dabei liegt nicht immer eine Legasthenie vor, wenn Kinder sich mit dem Lesen und Schreiben schwertun.

Selbst Hochbegabte können Legastheniker sein

Experten unterscheiden Legasthenie von einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS). Dabei gibt es nur vorübergehende Schwierigkeiten, deren Ursachen meistens in äußeren Umständen zu finden sind. Auslöser können zum Beispiel Probleme in der Familie sein oder falsche Lehr- oder Lernmethoden.

Legasthenie wiederum ist genetisch bedingt und kann nicht durch Üben und Wiederholen beseitigt werden. Auch hat sie nichts mit Intelligenz zu tun, selbst Hochbegabte können Legastheniker sein. Betroffen sind je nach Schätzung rund vier bis zwölf Prozent eines Jahrgangs.

Betroffene: "Lehrer haben mich abgestempelt"

Simone Appel bekam letztendlich eine Bescheinigung, dass sie Legasthenie habe. "Es gab aber Lehrer, die haben das schlicht nicht akzeptiert", sagt sie. "Ich wurde abgestempelt, vielleicht weil es einfacher war."

Solche Stigmatisierungen kommen immer noch vor, weiß Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie. Mit gravierenden Folgen: Bis zu 40 Prozent der betroffenen Kinder entwickelten psychosomatische Erkrankungen.

Weitere Informationen

30. September 2024: Tag der Legasthenie und Dyskalkulie

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Eine vollständige Heilung von Legasthenie ist nicht möglich, die Betroffenen können aber lernen, gut damit umzugehen. Die Heiltherapeutin, Legasthenie- und Dyskalkulie-Trainerin und Autorin Gisela Wiesner aus Homberg (Ohm) etwa hat jahrzehntelang mit betroffenen Kindern wie Simone Appel gearbeitet.

Therapie braucht viel Geduld

Das sei zeitaufwändig und erfordere viel Geduld, sagt die 72-Jährige, deren Sohn selbst betroffen ist. "Natürlich habe ich mit den Kindern auch Rechtschreibregeln trainiert", sagt sie. "Ich habe aber auch nach der Psyche geschaut – und vor allem spielerisch die Wahrnehmung trainiert, etwa über Suchbilder."

Immer wieder hat sie erlebt, dass Lehrer die Existenz von Legasthenie anzweifeln. "Bis heute werden einige dieser Kinder als faul und dumm bezeichnet", erzählt sie. "Sie müssen dann Texte laut vorlesen oder immer wieder abschreiben." Das traumatisiere die Kinder nachhaltig.

Verband: Basiswissen in Lehramtsstudium aufnehmen

Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie fordert deswegen, zumindest Basiswissen über Legasthenie und auch Dyskalkulie verpflichtend ins Lehramtsstudium aufzunehmen. Zudem dürfe nicht am Förderunterricht gespart werden, zur Not müsse qualifiziertes Personal von außen geholt und finanziert werden, damit auch Kinder aus sozial schwächeren Familien profitierten.

Der Verband fordert zudem seit Jahren eine bundesweite Vereinheitlichung der schulrechtlichen Regeln. So führen die Regelungen in Hessen in der Praxis an vielen Schulen dazu, dass Betroffene alle sechs Monate einen neuen Antrag auf Anerkennung der Legasthenie stellen müssen, um gefördert zu werden und einen so genannten Nachteilsausgleich zu bekommen. In einigen Bundesländern gilt der Antrag für mindestens ein Jahr oder wird dynamisch geprüft.

Nachteilsausgleich: Situation in Hessen

Beim Nachteilsausgleich werden die äußeren Rahmenbedingungen in Prüfungen verändert, das Anforderungsniveau bleibt dabei unberührt. Beim Notenschutz werden für eine Beurteilung der Leistung bestimmte Teilbereiche herausgenommen. 

Prinzipiell sollten Kinder und Jugendliche einen Nachteilsausgleich erhalten, die eine Behinderung oder Teilleistungsstörung haben, besondere Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen, eine vorübergehende Beeinträchtigung etwa durch einen Unfall oder eine chronische Erkrankung. Der Nachteilsausgleich für besondere Schwierigkeiten beim Rechnen wird in Hessen nur in der Grundschule gewährt, was Verbände und Experten vehement kritisieren.

Erziehungsberechtigte (oder die Lehrer) müssen dafür einen formlosen Antrag bei der Klassenleitung stellen und eventuelle Diagnosen oder Gutachten beifügen. Die Klassenkonferenz berät den Antrag, legt den Zeitraum und die Form fest und informiert die Erziehungsberechtigten. Veränderte Aufgabenstellungen oder mündliche statt schriftliche Prüfungen bei gleichem Anforderungsniveau werden nicht im Zeugnis vermerkt.

Wird zum Beispiel die Rechtschreibung nicht gewertet (Notenschutz), dann gibt es einen Vermerk im Zeugnis. Das Abitur ist gesondert geregelt, ein Nachteilsausgleich ist möglich, aber kein Notenschutz. Mehr dazu auf der Webseite des Hessischen Kultusministeriums.

  • Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
  • Kinder- und Jugendpsychotherapeuten
  • Psychologische Psychotherapeuten

Bei Erwachsenen dürfen Psychiater oder psychologische Psychotherapeuten eine medizinische Diagnostik vornehmen.

Das Berufsbild des Lerntherapeuten ist nicht geschützt. Eine Liste spezialisierter Therapeuten findet sich auf der Webseite des Bundesverbandes Legasthenie & Dyslexie.

"Heilpädagogische Legasthenie- und Dyskalkulie-Förderung: Theorie und Praxis: Kinder adäquat fördern und begleiten" (2023) von Gisela Wiesner, ISBN: 3808009292.

Verband: Oft wird nur das Nötigste gemacht

Auch der Ermessensspielraum bei der Anerkennung medizinischer Gutachten und der Ausgestaltung des Nachteilsausgleichs ist uneinheitlich geregelt: In Hessen muss die Schule ein solches Gutachten zwar berücksichtigen, darin enthaltene Fördervorschläge müssen aber nicht umgesetzt werden.

Die Ausgestaltung des Nachteilsausgleichs wiederum reicht von größer bedruckten Arbeitsblättern über Zeitverlängerungen in Arbeiten bis zu mündlichen Ersatzprüfungen. Oft werde aufgrund der hohen Arbeitsbelastung von Lehrkräften aber nur das Nötigste gemacht, moniert der Verband.

"Wir haben andere Stärken"

Simone Appel erinnert sich nur ungern an ihre Schulzeit. Nach ihrem Hauptschulabschluss und einer Ausbildung zur Floristin arbeitet sie inzwischen als Grünanlagenpflegerin bei der Gemeinde Butzbach (Wetterau). Sie bedauert, dass Legastheniker immer noch mit Stigmatisierung zu kämpfen haben. "Wir haben andere Stärken", betont sie. "Viel Phantasie zum Beispiel." Oder musikalisches Talent, Appel spielte schon als kleines Kind Orgel, wie sie erzählt.

Und während sie das Lesen früher hasste, liebt sie inzwischen die Bücher der irischen Autorin Cecelia Ahern. "Ihre Geschichten fand ich so toll, das hat mich unglaublich zum Lesen motiviert."

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Quelle: hessenschau.de