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Arbeitsstau in Gießener Rechtsmedizin "unzumutbar"

Ein Rechtsmediziner begutachtet eine Leiche

Unter anderem wegen des Streiks am Uniklinikum Gießen-Marburg hat sich in der Rechtsmedizin viel Arbeit angestaut: Manche Tote, die obduziert werden müssen, bleiben viel länger als gewöhnlich in der Kühlung. Für Angehörige ist das dramatisch.

Wenn Eltern und Großeltern ein junges Familienmitglied zu Grabe tragen müssen, ist das schlimm genug. Im Fall einer Familie aus Mittelhessen kommt nun noch dazu: Seit Wochen können die Angehörigen einen plötzlich verstorbenen jungen Mann nicht beerdigen - der Leichnam des 35-Jährigen liegt seit Anfang Mai in der Kühlung der Gießener Rechtsmedizin.

Der Grund: Dort gibt es einen erheblichen Arbeitsrückstau. Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) bestätigt, dass sich gerichtlich angeordnete Obduktionen derzeit um drei bis vier Wochen verzögern könnten. Darüber hatte zunächst die Gießener Allgemeine berichtet.

Ursache seien Arbeitsausfälle durch den mehrwöchigen Streik am UKGM, der bis Mitte April dauerte. Daran beteiligten sich laut Klinik auch Präparatoren.

Bestatter: "Das ist einfach schlimm"

Allein vier davon betroffene Familien betreut der Gießener Bestatter Patric Stromberg. Er berichtet: Die Familien warten seit Wochen darauf, ihre Angehörigen bestatten zu können. In einem Fall sei die Person schon am 26. April gestorben und immer noch nicht obduziert worden.

"Das ist einfach schlimm", meint Stromberg. "Die Familien können sich nicht verabschieden, es können keine Trauerfeiern terminiert werden." In seinem Bestattungsinstitut klingele deswegen ständig das Telefon, erst kürzlich habe die Großmutter eines Verstorbenen weinend vor ihm gesessen.

Obduktionen nicht nur bei Tötungsdelikten

Rund 300 Obduktionen werden in der Gießener Rechtsmedizin jährlich durchgeführt, etwa noch einmal so viele an der Außenstelle in Kassel. In Gießen ist man zuständig für die Bereiche der Staatsanwaltschaften Gießen, Marburg und Limburg mit den Außenstellen Wetzlar und Fulda.

Die Untersuchungen werden bei Verdacht auf Tötungsdelikte angeordnet, aber auch dann, wenn eine Todesursache anderweitige Fragen aufwirft: etwa bei einem Sportler, der beim Joggen tot umfällt, oder bei einer Frau, die allein und ohne medizinische Betreuung in ihrer Wohnung stirbt.

Direktor bestätigt Rückstau

Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Gießen, Reinhard Dettmeyer, bestätigt auf hr-Anfrage, dass es Probleme gebe. "Mir tut es sehr leid für die Angehörigen, und wir tun unser Möglichstes, um den Rückstand abzuarbeiten", sagt Dettmeyer. Zeitweise sei man mit 27 Fällen im Rückstand gewesen, derzeit noch etwa mit 14 Fällen, berichtet der Professor.

"Normalerweise ist die Arbeitslast zu bewältigen, und wir schaffen es, die Obduktion eines Verstorben innerhalb weniger Tage durchzuführen", erklärt der Pathologe. Nun habe "ein Zusammentreffen mehrerer Dinge" dazu geführt, dass man zeitweise nicht mehr hinterhergekommen sei.

"Wir machen bereits Überstunden und Feiertagsdienste"

Dazu gehörten der Streik, Wechsel im Personal und eine aktuell insgesamt hohe Arbeitslast. "Es gibt in manchen Phasen einfach mehr suspekte Todesfälle als in anderen", sagt der Rechtsmediziner. Das seien dann zufällige Häufungen, die man nicht planen könne.

Nahaufnahme von Obduktionsbesteck

Hinzu komme: In Absprache mit Staatsanwaltschaften und Gerichten müssten dringliche Fälle mit konkretem Verdacht auf Tötungsdelikte vorgezogen werden. Die Gerichtsmediziner untersuchten außerdem lebende Gewaltopfer, darunter Kinder, bei denen ein Verdacht auf Misshandlungen besteht. "Das kann dann natürlich nicht warten", erklärt Dettmeyer.

Der Professor betont: Man habe in den vergangenen Tagen bereits durch Überstunden und Feiertagsdienste einiges aufholen können und wolle so auch weiter verfahren, bis der Rückstand aufgeholt sei.

Bestatterverband: Lange Wartezeiten nicht zumutbar

Dominik Kracheletz, Bestatter aus Kassel und Vorsitzender des Hessischen Bestatterverbands, sagt: "Solche langen Wartezeiten - das ist den Angehörigen nicht zumutbar."

Eine Obduktion sollte nicht länger als zwei bis drei Arbeitstage in Anspruch nehmen, meint er. "Das ist momentan auch in etwa der Durchschnitt in Deutschland." Wartezeiten von mehreren Wochen seien höchst ungewöhnlich und für die Hinterbliebenen eine Katastrophe, meint Kracheletz.

"Wenn ein Todesfall eintritt, ist das oft ohnehin schon ein schlimmer Ausnahmezustand", so der Bestatter. "Und dann wird der Trauerprozess zwar angestoßen, aber die Leute können gar nicht richtig mit ihrer Trauer umgehen, weil sie wochenlang warten müssen und nicht wissen, wann die Beisetzung stattfinden kann."

Hinzu komme außerdem der Verfall des Körpers: "Durch den Kühlungsprozess wird die Verwesung nur verlangsamt, aber nicht gestoppt", erklärt der Bestatter.

"Abschiednehmen am offenen Sarg manchmal nicht mehr möglich"

Dieses Problem kennt auch Bestatter Patric Stromberg. Er berichtet: "Abschiednehmen am offenen Sarg ist nach so einer langen Zeit nicht immer möglich. Manchmal konnten die Angehörigen eine Person gar nicht mehr sehen." Auch der Körper des oben erwähnten jungen Mannes sei nach seinem Tod sofort beschlagnahmt worden.

Immerhin: In einem der Fälle, die sein Bestattungsinstitut betreffen, sei der Leichnam nach drei Wochen Wartezeit gebracht worden. Ein anderer werde nun ebenfalls bald erwartet.

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