Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf bei der Pressekonferenz zur Studie zu sexueller Gewalt.

Der Mainzer Bischof Kohlgraf hat sich entsetzt über die in einer Studie bekannt gewordenen Fälle von sexueller Gewalt in dem Bistum gezeigt. Er spricht von einem Systemversagen. Hart ins Gericht geht er mit seinem Vorgänger. Das Bistum liegt zu etwa zwei Dritteln in Hessen.

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Bischof Kohlgraf: "Studie erschreckend"

Bistum Mainz
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Fünf Tage nach der Vorlage einer Studie über sexuelle Gewalt im Bistum Mainz hat sich Bischof Peter Kohlgraf zu den darin aufgeführten Fälle von sexueller Gewalt in dem Bistum und über das Verhalten seiner Vorgänger im Umgang mit Missbrauchsopfern geäußert.

"Mehrfach waren die Schilderungen für mich als Christ und Mensch zutiefst erschreckend", sagte er am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Mainz. Es habe in der katholischen Kirche ein Systemversagen gegeben. "Fehlende Verantwortungsübernahme hat Missbrauch begünstigt", kritisierte Kohlgraf.

Opfer zumeist Kinder und Jugendliche

Es falle ihm nicht immer leicht, für eine derartige Gestalt von Kirche, "die keineswegs überwunden ist", Verantwortung zu übernehmen. Das Bistum Mainz liegt zu etwa zwei Dritteln in Hessen.

Es war Kohlgrafs erste ausführliche Stellungnahme zu den Ergebnissen der Untersuchung. Die am Freitag veröffentlichte, mehr als 1.100 Seiten umfassende Studie des unabhängigen Rechtsanwalts Ulrich Weber hatte ergeben, dass jahrzehntelang Fälle von sexueller Gewalt nicht konsequent verfolgt, teils verschwiegen und verharmlost wurden. Opfer waren zumeist Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene.

Ex-Bischof Lehmann mit "Härte und Abweisung"

Kohlgraf ging auch auf seinen Vorgänger Kardinal Karl Lehmann (1936-2018) ein, der lange Jahre auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war und laut Studie die systemische Verantwortung der Kirche und des Bistums für Missbrauchstaten wiederholt bezweifelt hatte. "Ich erschrecke, wenn ich davon lese, dass ein Bischof, der immer wieder ein menschenfreundliches Gesicht gezeigt hat, in der Begegnung mit Betroffenen sexualisierter Gewalt eine unglaubliche Härte und Abweisung zeigt", sagte er.

Lehmann verkörpere im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen eine Kirche, "die abgrenzt und sich ihrer Verantwortung nicht stellt". Er habe es immer als Auszeichnung betrachtet, dass Lehmann ihn zum Bischof geweiht habe, nach der Studie sei dieser Gedanke für ihn nun schwierig.

Kohlgraf: Kindern wurde nicht geglaubt

Kohlgraf sprach von einem Versagen nicht nur an der Spitze bei den Verantwortlichen des Bistums, sondern auch auf unteren Ebenen: in den Gemeinden und sogar in Familien. Die Ursachen dafür sieht der Bischof auch in der Struktur der katholischen Kirche und einem weit verbreiteten Priesterbild.

"Gemeinden haben ihre Priester auf ein Podest gehoben, das sie unangreifbar macht. Es konnte nicht geschehen sein, was nicht sein durfte", kritisierte Kohlgraf. Das Verhalten von Familien sei teilweise unvorstellbar. "Den eigenen Kindern wurde teils nicht geglaubt, weil man die Autorität des Priesters nicht antasten wollte."

"Missbrauch immer verbunden mit Machtausübung"

Der Mainzer Bischof machte deutlich: "Eine solche Kirche will ich nicht mehr und viele Menschen ebenfalls nicht." Er dankte allen Betroffenen, die von ihrem Leid berichtet hätten. "Ich bin dankbar dafür, dass die Wahrheit ans Licht kommt", betonte er.

Das Sprechen über sexualisierte Gewalt solle kein Tabu mehr in der Kirche sein. Er sprach von einem "Kulturwandel", der seit einigen Jahren im Bistum Mainz stattfinde. "Dieser Weg ist unumkehrbar", betonte er und verwies auf laufende Präventionsschulungen, an denen bereits 20.000 Haupt- und Ehrenamtliche teilgenommen hätten.

Kohlgraf räumte ein, dass es in der katholischen Kirche Widerstände gegen eine Kulturveränderung gebe, die letztlich zu mehr Miteinander von Laien und Bischöfen führen müssten. Diese Widerstände gebe es im Vatikan, aber nicht nur dort.

"Missbrauch ist immer verbunden mit Machtausübung, einer bestimmten Sexualmoral und dem kirchlichen Umgang mit ihr, mit männerbündischen Netzen und auch der priesterlichen Lebensform und deren Selbstverständnis - unbeschadet der Tatsache, dass es nicht nur Missbrauchstäter aus dem Priesterstand gab und gibt."

Betroffenenbeauftragter fordert sechsstellige Summen

Jürgen Herold, selbst Opfer sexueller Gewalt und einer der drei Betroffenenbeauftragten in der Unabhängigen Untersuchungskommission des Bistums, lobte die von Weber zusammengestellte Missbrauchsstudie als die beste ihrer Art in Deutschland. Klar sei aber auch, dass es nach wie vor eine sehr hohe Dunkelziffer gebe.

Er kritisierte, dass die Studie nur auf Unterlagen beruhe, die im Bistum verfügbar seien, und Gespräche, die Betroffene mit Weber und seinen Mitarbeitern geführt hätten, aber "keine aktive Suche nach weiteren Betroffenen" geführt worden sei.

Herold forderte, an Missbrauchsopfer jeweils sechsstellige Summen aus dem Vermögen des Bistums auszuzahlen, um die Kosten für deren oft lebenslang notwendige psychische Betreuung zu begleichen.

123 Anträge "zur Anerkennung des Leids"

Kohlgraf reagierte ausweichend. Eine derartige Pauschale werde "nicht wirklich Gerechtigkeit herstellen", sagte der Bischof. Er verwies auf die 2021 in Kraft getretene Verfahrensregelung aller 27 Bistümer in Deutschland in dieser Frage.

Nach Angaben des Bistums gingen seit 2011 insgesamt 123 Anträge "zur Anerkennung des Leids" ein, die an die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen weitergeleitet wurden. Bisher wurde eine Summe von insgesamt rund 1,25 Millionen Euro an 91 Betroffene ausgezahlt.

Für Therapien habe das Bistum Mainz zusätzlich bislang etwa 780.000 Euro aufgewendet. Das Geld stammt den Angaben zufolge nicht aus Kirchensteuermitteln, sondern aus einem Fonds, der sich etwa aus Zinserträgen speise.

Betroffenenbeirat sieht "hässlichen Wesenszug"

Johannes Norpoth, Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz, sagte, auch die Mainzer Studie zeige erneut, dass nicht nur die Täter, sondern auch Verantwortliche und insbesondere Bischöfe unfassbare Schuld auf sich geladen hätten, auch Kardinal Lehmann.

"Die Mainzer Studie belegt einen weiteren, hässlichen Wesenszug dieses Bischofs. Damit wird - mit Recht - erneut ein namhafter Vertreter des deutschen Episkopats von seinem Sockel als Vorbild für mehr als eine Generation von Theologen und Klerikern gestoßen. Es dürfte nicht der letzte Sockel sein, der in diesem Jahr frei wird."

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