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Ende des Verkehrsversuch von Gegnern begrüßt

Durchgestrichene Markierungen auf einer Fahrradspur

Seit dieser Woche gehört der Anlagenring in Gießen wieder den Autofahrern. Die Fahrradstraße ist nach dem gescheiterten Verkehrsversuch Geschichte. Doch Bürgermeister Wright will so schnell nicht aufgeben. Mit Beteiligung der Gießener soll eine Kompromisslösung her.

Seit dieser Woche ist der viel diskutierte Gießener Verkehrsversuch auf dem Anlagenring Geschichte, noch bevor er richtig angefangen hat. Eigentlich sollte er ein ganzes Jahr dauern und Erkenntnisse darüber bringen, wie der Radverkehr in der Innenstadt sicherer gemacht werden kann. Doch Gerichte haben ihn gestoppt. Wie kam es soweit? Und wie geht es jetzt weiter?

Wie ist die Vorgeschichte des Verkehrsversuchs?

Fahrradwege am Anlagenring, der für die Zufahrt zur Gießener Innenstadt so wichtig ist, sind seit Jahrzehnten Streitthema. Immer wieder tauchte die Forderung nach Fahrradstreifen in Koalitionsverträgen auf, Gewerbetreibende waren dagegen skeptisch bis ablehnend. Am 4. März 2021 stimmten die Stadtverordneten von SPD, Grünen und Gießener Linken auf Grundlage eines Bürgerantrags schließlich für das Verkehrsexperiment.

Zunächst folgte eine Phase politischer Auseinandersetzung - besonders heftig vor der Kommunalwahl. Dann war es lange eher still. Konkret wurde es mit Alexander Wrights (Grüne) Wahl zum Bürgermeister im Februar 2022: mit Studien, Anwohnerversammlungen, und schließlich einer schriftlichen Anordnung der Straßenverkehrsbehörde im Ordnungsdezernat am 13. Juni, die Einrichtung zu beginnen.

Was genau war der Verkehrsversuch?

Für ein Jahr sollte der Fahrradverkehr eine (fast) exklusive, rund drei Meter breite Spur auf dem Ring bekommen. Für Autos sollte der Ring gleichzeitig zur Einbahnstraße werden. Der Plan war, die Fahrbahn abschnittsweise umzubauen, Ende September sollten die Arbeiten abgeschlossen sein.

Auf dem vierspurigen, in beide Richtungen befahrbaren Ring sollten die Autos dann auf den beiden äußeren Fahrspuren gegen den Uhrzeigersinn um die Innenstadt fahren, Parkhäuser und Grundstücke aber erreichbar bleiben. Die beiden inneren Fahrspuren sollten zur Fahrradstraße werden. Nach einem Jahr sollten externe Gutachter den Versuch bewerten.

Warum ist der Versuch schon vorab gescheitert?

Die Arbeiten waren in vollem Gange, als das Gießener Verwaltungsgericht am 10. Juli urteilte: Der Verkehrsversuch ist rechtswidrig. Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Verkehrsversuch lägen nicht vor, es fehlten zudem Daten über eine konkrete Gefahr für Radfahrer, teilten die Richter mit und gaben dem Eilantrag zweier Anwohner einer Seitenstraße statt.

Die Stadt legte Beschwerde beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel ein, scheiterte aber auch dort. Bürgermeister Wright reagierte "mit großem Bedauern", kündigte aber einen umgehenden Rückbau an. Bis dahin hatte der Versuch 1,7 Millionen Euro gekostet.

Wie geht es jetzt weiter mit dem Gießener Verkehr?

Weiter geht es in kleinen Schritten, Bürgerbeteiligung und zunächst mit der Wiederherstellung des Zustands vor dem Versuch: Nach dem Rückbau der Absperrungen und der Schilder errichte die Stadt nach und nach wieder die Schutzanlagen für Radfahrende aus der Zeit vor dem Versuch, sagt Wright.

Danach wolle sich die Stadt auf die Knotenpunkte konzentrieren, die wichtig für die Querung in die Innenstadt sind. Das habe der VGH in seiner Begründung für die Ablehnung des Verkehrsversuchs gefordert. Ein Beispiel sei die in die Innenstadt führende Frankfurter Straße. "Hier haben wir Fahrradstreifen bis zum Anlagenring durchgezogen und müssen etwa an der Alicenstraße eine sichere Querungsmöglichkeit schaffen", sagt Wright.

Viele Hoffnungen ruhen nun auf dem Verkehrsentwicklungsplan (VEP) der Stadt, der mit Beteiligung unter anderem der Fraktionen, von Akteuren wie dem Fahrradclub ADFC und Bürgern entstanden ist und mit vielen Einzelmaßnahmen den Anteil von Fußgängern, Radfahrenden und ÖPNV-Nutzenden erhöhen will. Bis zum 8. Dezember kann jeder noch Anregungen und Hinweise einbringen.

Wright hat zudem nach eigenen Angaben eine interfraktionelle Arbeitsgruppe zum Thema Verkehr ins Leben gerufen, die am Mittwoch erstmals tagt - und die die Stadtgesellschaft nach der aufgeheizten Debatte um den Verkehrsversuch auch befrieden soll: "Die Debatte hat auch zu der Erkenntnis geführt, das etwas für die Sicherheit aller im Verkehr getan werden muss. Die Arbeitsgruppe soll helfen, weg vom Vorwurf der Ideologie zu kommen", sagt Wright.

Welche (politischen) Konsequenzen hat das Scheitern?

Das Scheitern befeuert die politische Debatte weiter, erst vergangene Woche war es wieder Thema in der Stadtverordnetenversammlung. Zudem laufen Ermittlungen wegen des Verdachts der Untreue gegen Bürgermeister Wright, und das noch mehrere Wochen, wie die Staatsanwaltschaft Gießen auf Anfrage mitteilt. Der Bürgermeister war im September angezeigt worden. Ihm werde vorgeworfen, den Verkehrsversuch trotz des Urteils des Verwaltungsgerichts Gießen weitergeführt zu haben, hieß es damals. Das hätte der Stadt "einen Vermögensnachteil" zugefügt, etwa durch erhöhte Rückbaukosten.

Gegenstand der Ermittlungen sei demnach, "ob und inwieweit er dabei gegebenenfalls billigend in Kauf genommen hat, dass das Vorhaben auch letztinstanzlich als rechtswidrig eingestuft werden könnte". Die Gießener Opposition forderte kurz nach dem Urteil des VGH, Wright solle zurücktreten, auch weil dieser vorab geäußerte Zweifel des Regierungspräsidiums (RP) Gießen an der Rechtmäßigkeit des Versuchs und Alternativvorschläge nicht berücksichtigt habe. Wright wies das zurück.

Und OB Becher kündigte eine Untersuchung an. "Ich werde verwaltungsintern aufarbeiten lassen, was im Einzelnen dazu beigetragen hat, dass dem Versuch die rechtliche Grundlage abgesprochen wurde, was davon grundsätzlicher Natur ist und was in unserem Gestaltungsbereich gelegen hat", sagte er nach dem Gerichtsurteil.

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