Straße mit vier Autospuren, darauf mehrere Autos, die an einer Ampel anfahren.

Die Umgestaltung des Gießener Anlagenrings muss mangels ausreichender Vorbereitung sofort gestoppt werden. Die Stadt reagierte mit Bedauern, kündigte aber umgehend den Rückbau an. Oppositionsvertreter machen der Stadt Vorwürfe und fordern den Rücktritt von Bürgermeister Wright.

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Gießener Verkehrsversuch ist rechtswidrig

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Der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel hat die Beschwerde der Stadt Gießen gegen eine Entscheidung des dortigen Verwaltungsgerichts zurückgewiesen. Wie der VGH am Mittwoch mitteilte, ist damit bestätigt, dass der umstrittene Verkehrsversuch auf dem Gießener Anlagenring rechtswidrig sei. Der Beschluss sei nicht anfechtbar (Az. 2 B 987/23).

Gießen kündigt Rückbau an

Die Stadt kündigte nach der gerichtlichen Niederlage am Mittwochnachmittag an, den umstrittenen Verkehrsversuch wieder rückgängig zu machen. Bürgermeister Alexander Wright (Grüne) reagierte "mit großem Bedauern" auf die Entscheidung des VGH. Dieser sei damit "faktisch hinfällig".

Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD) sprach am Donnerstag von einem "ärgerlichen Scheitern", das die Stadt nun intensiv auswerten werde. Er setzte langfristig auf eine Änderung des Straßenverkehrsrechts auf der Bundesebene: Er sei überzeugt, "dass wir in zehn Jahren auf eine deutlich veränderte Verkehrsinfrastruktur in unserer Stadt blicken werden, weil ein einfaches Weiter-so nicht dauerhaft tragfähig sein wird".

Man werde den Rückbau der Einbahnstraßen-Verkehrsführung "schnellstmöglich und geordnet" angehen, kündigte Bürgermeister Wright nach der VGH-Entscheidung an. Dies könne aus Witterungsgründen, wegen der nötigen Beauftragung von Firmen und Umprogrammierungen von Ampeln bis zum Frühjahr dauern. Es werde aber geprüft, ob der letzte Bauabschnitt, der aktuell im Umbau ist, umgehend wieder geöffnet werden könne.

Oppositionsvertreter fordern personelle Konsequenzen

Nach dem Gerichtsbeschluss regt sich in der Gießener Stadtpolitik vonseiten der Oppostion nun deutliche Kritik an den Entscheidungsträgern. Es wird eine sofortige Sondersitzung der Stadtverordneten gefordert.

Der CDU-Stadtverbandsvorsitzender Frederik Bouffier sprach von einer "schallenden Ohrfeige" für die Politik der Koalition. Es brauche "schleunigst Aufklärung" und die Verantwortlichen müssten sich fragen, ob sie darauf "persönlichen Konsequenzen" zu ziehen hätten.

Konkreter machte es die FDP: Sie fordert Wright direkt auf, vom Bürgermeisteramt zurückzutreten. Der Magistrat habe sich mit Bedenken des Regierungspräsidiums und des Polizeipräsidiums nicht ernsthaft auseinandergesetzt, so die FDP. "Der VGH bringt damit in bemerkenswerter Klarheit zum Ausdruck, dass die Entscheidungsträger hier fahrlässig, wenn nicht sogar grob fahrlässig agiert haben."

1,7 Millionen für Stärkung von Fahrrad- und Busverkehr

Die Gießener Stadtverwaltung hatte beabsichtigt, die inneren Fahrspuren des Anlagenrings fortan für den Fahrrad- und Busverkehr zu reservieren, so dass dem Autoverkehr nur noch die äußeren Fahrspuren blieben. Damit sollte Radfahrern und Fußgängern mehr Platz und Sicherheit im Straßenverkehr geboten werden.

Bislang habe der Verkehrsversuch 1,7 Millionen Euro gekostet, sagte Wright am Mittwoch. In dieser Summe seien aber auch Maßnahmen enthalten, die nicht zurückgebaut werden müssten, etwa die Modernisierung von Ampelanlagen. Wie teuer der Rückbau wird, ist noch nicht bekannt.

Fehlende Datengrundlagen

Zwei Anwohner reichten beim Verwaltungsgericht Gießen einen Eilantrag gegen den Verkehrsversuch ein. Die Neugestaltung des Straßenraums hatte im Juni begonnen, was bereits eine veränderte Verkehrsführung mit sich brachte. Konkret dagegen wandte sich der Antrag. Das Verwaltungsgericht gab dem Antrag Mitte Juli statt.

Begründung: Für den Versuch lägen keine gesetzlichen Voraussetzungen vor. Zudem fehle es an den nötigen Datengrundlagen.

In diese Kerbe schlug nun auch der VGH. "Die Anordnung eines Verkehrsversuchs erfordert nach der Straßenverkehrsordnung die Feststellung einer Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs sowie besondere Umstände, die den Versuch bzw. dessen spätere Umsetzung zwingend erforderlich machen", heißt es in der Mitteilung zu dem Beschluss vom Dienstag.

Zweifel an Rechtmäßigkeit nicht berücksichtigt

Die Stadt Gießen habe jedoch nicht plausibel dargelegt, dass es eine solche Gefahr für bestimmte Verkehrsteilnehmer gebe. Sie habe außerdem Zweifel an der Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit des Versuchs, die das Regierungspräsidium (RP) Gießen und das Polizeipräsidium Mittelhessen vorgebracht hätten, zu wenig erwogen oder gar ignoriert.

Alternativen zu einer geänderten Radverkehrsführung durch die Gießener Innenstadt habe die Stadtverwaltung nicht ausreichend geprüft. Da nur auf einzelnen Abschnitten des bislang in jeder Fahrtrichtung zweispurigen Anlangenrings eine erhöhte Unfallgefahr für Radfahrer bestehe, sei nicht ersichtlich, warum die gesamte Strecke in den Verkehrsversuch einbezogen werden solle, so der VGH. Auch ein Bemühen um mehr Klimaschutz könne eine solche Verkehrsmaßnahme nicht begründen.

Hessens oberste Verwaltungsrichter attestieren der Stadt also, nicht sorgfältig genug gearbeitet zu haben. Sie argumentieren aber auch anhand der Tatsache, dass der Anlagenring eine hohe Bedeutung für den motorisierten Verkehr in Gießen habe und von Radfahrer "derzeit gering genutzt" werde - was womöglich an den fehlenden Radwegen liegt.

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