Vor 80 Jahren Zeitzeugen über Kriegsende: "Eine Befreiung, dass nichts mehr von oben runterkam"
Mit dem Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 endete die Herrschaft der Nationalsozialisten. Die Amerikaner brachten Frieden und Demokratie nach Hessen. Doch die Nachkriegszeit bedeutete für viele auch: Hunger, Armut und Kälte. Drei Zeitzeugen erzählen.
Ursel Perl erinnert sich noch genau an die Ankunft der amerikanischen Soldaten in Gießen. Im Frühjahr 1945 war sie 15 Jahre alt, ihr Vater Medizinprofessor an der Universität. Überall lagen Trümmer nach den Bombenangriffen der Alliierten, die deutschen Soldaten waren geflohen.
Ursel Perl saß in einem Keller und beobachtete durch ein Fenster, wie die Amerikaner in die Stadt kamen. "Wir sahen nur diese hohen Schnürstiefel", erzählt die heute 95-Jährige. "Wie Katzen sind die da vorbei - das war so unheimlich."
Vor den Amerikanern habe sie zunächst Angst gehabt, erzählt Perl. Denn viele der GIs waren schwarz - für sie war das ein vollkommen neuer Anblick. "Wir wussten damit nicht umzugehen."
Amerikaner nehmen Hessen ein
In diesen letzten Tagen des zweiten Weltkriegs nahmen die amerikanischen Soldaten immer größere Teile Hessens ein. Nicht alle ergaben sich im Frühjahr 1945 sofort. Hitler erließ in letzter Minute den sogenannten "Nero-Befehl": Man dürfe nicht aufgeben und müsse verbrannte Erde hinterlassen.
Manche Verantwortliche, wie der damalige Bürgermeister von Marburg, widersetzten sich diesem Befehl, um ihre Städte vor Zerstörung zu schützen. In Kassel dagegen gab es noch tagelange Kämpfe, bis die Stadt schließlich von den Amerikanern eingenommen wurde.
Weißes Betttuch am Kirchturm gehisst
Auch Wolfgang Brand aus Wiesbaden erinnert sich an die Ankunft der Amerikaner. Er war als Kind bei Verwandten im bayerischen Feuchtwangen untergekommen, nachdem das Wohnhaus der Familie bei einem Bombenangriff zerstört worden war.
Dort kamen Ende April 1945 die amerikanischen Truppen an, erzählt Brand, der heute 89 Jahre alt ist. "Es wurde ein weißes Betttuch am Kirchturm gehisst" - um zu zeigen, dass der Ort keinen Widerstand leisten würde. Daraufhin rollten die Jeeps der Amerikaner in die Stadt.
Amerikaner übernehmen die Kontrolle
Mit der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 endete der zweite Weltkrieg - und damit auch die Herrschaft der Nationalsozialisten. Deutschland wurde in Besatzungszonen der Alliierten aufgeteilt. In Hessen übernahm die amerikanische Militärregierung die Kontrolle. Ihr Hauptquartier wurde das IG-Farben-Haus in Frankfurt, das heute zum Campus Westend der Universität gehört.
Die Luftangriffe endeten. Doch für viele Menschen war die Zeit unmittelbar nach Kriegsende voller Entbehrungen. Der Handel und der Nachschub mit Lebensmitteln funktionierten nicht mehr, Essen wurde rationiert. Die Menschen mussten sich selbst versorgen, über Tauschgeschäfte an Essen kommen - oder sogar betteln und stehlen.
Selbstversorgung zwingend notwendig
Ursel Perl erinnert sich, wie ihre Familie auf einer Wiese neben dem Wohnhaus in Gießen Kartoffeln und Zuckerrüben anpflanzte. "Das haben wir nachts bewacht, mit einem scharfen Hund", erzählt die 95-Jährige. Die Nachtwache sei nötig gewesen. "Sonst wäre morgens nichts mehr da gewesen."
Zusätzlich halfen Perl und ihr Bruder als Kinder mit, die Familie zu ernähren: Mit ihren Fahrrädern fuhren sie in den Gießener Bergwerkswald, um dort Beeren und Hagebutten zum Einkochen zu pflücken. "Das war viel Arbeit - aber wir hatten was aufs Brot zu schmieren."
Ähnliche Erfahrungen hat Horst Hilgardt gemacht, der ebenfalls aus Gießen stammt und während des Kriegs bei Bekannten in Geiß-Nidda (Wetterau) unterkam. Er erinnert sich daran, wie er als Kind Getreidereste von abgeernteten Feldern einsammeln musste: "Wenn die Frucht abgefahren worden ist, bleiben Ähren liegen - die haben wir aufgesammelt und Mehl dafür bekommen."
Keine Schule, viel Freizeit
Zur Schule gingen viele Kinder in dieser Zeit nicht - zumindest nicht offiziell. Bis Januar 1946 blieben die Schulen geschlossen, erzählt Ursel Perl. Trotzdem gab es direkt nach Kriegsende wieder Unterricht: "Es haben sich sofort Lehrkräfte unserer Schule bemüht, bei sich zuhause zu unterrichten, damit wir nicht zu große Lücken haben."
Wolfgang Brand erlebte in dieser Zeit ein Gefühl von Freiheit. "Die Erwachsenen hatten Anderes zu tun als nachzuprüfen, wo wir herumliefen." Mit seinem älteren Bruder sei er oft draußen unterwegs gewesen - am Bach, in den fliehende deutsche Soldaten ihre Waffen geworfen hatten. "Mein Bruder hat dann Gewehre gesichert und mir gezeigt, wie man schießt."
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Konfrontation mit den NS-Verbrechen
Das Kriegsende markierte einen Bruch: Zwölf Jahre Diktatur unter Hitler waren vorbei. Viele Kinder und Jugendliche hatten nie etwas anderes als die Indoktrinierung durch die Nazis kennengelernt. "Bei der Einschulung fragte ein Lehrer uns Erstklässler, wer unser liebster Mensch sei", erinnert sich Wolfgang Brand.
Die Kinder nannten ihre Mutter oder ihren Vater. Doch der Lehrer widersprach: "Er hat gesagt: Der liebste Mensch, den ihr habt, ist Adolf Hitler, denn er sorgt für euch und beschützt euch."
Dann war plötzlich alles anders: Ursel Perl musste sich 1945 mit ihrer Schulklasse auf Anweisung der amerikanischen Militärregierung den Dokumentarfilm "Die Todesmühlen" ansehen. Er zeigt Videomaterial aus den befreiten Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die Deutschen sollten mit den Verbrechen konfrontiert werden, die vor ihren Augen begangen wurden.
"Da haben wir das erste Mal von den KZs erfahren", erzählt Perl über den Kinobesuch. "Ich bin weinend heimgegangen." Sie habe zu ihrer Mutter gesagt: "Mutti, das kann der Führer doch nicht gemacht haben."
Viele Deutsche wollten von den Verbrechen der Nazis damals nichts gewusst haben. Die historische Forschung zeigt allerdings, dass das Wissen über den Mord an den Juden in der Bevölkerung verbreiteter war als viele zugeben wollten.
Entnazifizierung - mit vielen Ausnahmen
Nach Kriegsende sollten diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die am Nazi-Regime beteiligt waren. So wurden bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen 19 NS-Größen verurteilt, darunter Hermann Göring und Rudolf Heß.
Die amerikanische Militärregierung versuchte auch in Hessen, möglichst alle belasteten Personen aus ihren Ämtern zu entfernen und zu bestrafen. Trotzdem kamen viele Nazi-Unterstützer ohne Strafe davon. Gerade Ärzte und Juristen wurden nach dem Krieg gebraucht, um den Staat wieder aufzubauen. "Die Amerikaner brauchten eingearbeitete Leute", sagt Ursel Perl. "Also sind diese Verbrecher in ihren Positionen geblieben und keiner hat ihnen ein Haar gekrümmt."
Wolfgang Brand erinnert sich, dass sein Vater Polizist und NSDAP-Mitglied gewesen war. Trotzdem durfte er weitermachen und entschärfte im Auftrag der Amerikaner Bomben. Damit habe er keine Probleme gehabt, erklärte Brand. 1946 kam er bei einer Bombenentschärfung ums Leben.
Die Zeit, in der der Frieden anbrach
Die Zeit nach dem Krieg war für viele Menschen ein drastischer Umbruch: Es fehlte das Nötigste zum Leben. Gleichzeitig musste das ganze Land den Wandel von der Diktatur zur Demokratie schaffen und sich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandersetzen.
Und dennoch sind viele Zeitzeugen dankbar, dass am 8. Mai 1945 der Krieg und die Zeit der Nazi-Herrschaft vorbei waren. "Für uns war es eine Befreiung, dass nichts mehr von oben runterkam", sagt Ursel Perl über das Ende der Luftangriffe. Und Wolfgang Brand betont: "Es war für uns eine Zeit, in der der Frieden anbrach."