KI-Videos in sozialen Medien Wenn Anne Frank auf Tiktok um Likes bittet
Auf Tiktok werden KZ-Ärzte und NS-Opfer mit KI wieder zum Leben erweckt - historisch und ethisch fragwürdig, warnt die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank in ihrem neuen Digital-Report vor einem verfälschten Geschichtsbild. Mit Schock-Momenten werden Likes gesammelt.
Mit Künstlicher Intelligenz (KI) wird SS-Lagerarzt Josef Mengele in einem Tiktok-Video zum Sprechen gebracht. "Ich bin ein Monster in menschlicher Gestalt", sagt der NS-Verbrecher in der typisch monotonen KI-Stimme.
Der echte Mengele wird solche Sätze wohl nie gesprochen haben. Er war überzeugter Nationalsozialist und berüchtigt für seine grausamen Menschenversuche in Konzentrationslagern. Bis zu seinem Tod zeigte er keine Reue für seine Verbrechen.
Einfluss auf Geschichtsbilder
Das Video mit rund 1.500 Likes sei "eine bewusste Irreführung des Publikums", warnt die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank. Dementsprechend finden sich in den Kommentarbereichen unter solchen Videos viele antisemitische Statements der Nutzenden.
Solche KI-generierten Videos auf allen möglichen Plattformen nehmen laut Bildungsstätte "wachsenden Einfluss auf Geschichtsbilder" von Jugendlichen. In ihrem neu erschienen rund 70-seitigen Digital-Report "Der Holocaust als Meme" beschreibt die Bildungsstätte den wachsenden Einfluss von Tiktok und Instagram auf die Erinnerungskultur. Der Report kann kostenlos heruntergeladen werden.
Anne Frank: "Lasst ein Like da"
KI-generierte Figuren aus der NS-Zeit sind laut dem Bericht "im Trend". Auch Anne Frank wird so in einem Tiktok-Video zum Sprechen gebracht.
Das 1929 in Frankfurt geborene jüdische Mädchen, das auf der Flucht vor den Nazis im niederländischen Exil ihr weltberühmtes Tagebuch verfasste, erzählt in dem Video ihre Lebensgeschichte - historische Ungenauigkeiten inklusive. So berichtet die fingierte Anne Frank etwa über ihrem Tod in Auschwitz. In Wirklichkeit wurde sie im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet.
Am Ende des Tiktok-Videos bittet Anne Frank darum, den Kanal zu abonnieren "und lasst ein Like da". Mit solchen Videos wird laut Bildungsstätte das Leid trivialisiert.
Schulunterricht vs. soziale Medien
Das Interesse von Jugendlichen an der Geschichte des Nationalsozialismus lässt offenbar nicht nach. Doch während im Schulunterricht zunehmend weniger Wissen über die Shoah vermittelt werde, "erfreut sich das Thema NS-Historie in sozialen Medien oder digitalen Games einer großen Beliebtheit", sagt Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte.
Doch zwischen Memes und Reaction-Videos würden geschichtliche Fakten dabei immer häufiger verzerrt oder gar ins Gegenteil verkehrt. Der Schulunterricht könne mit der Reichweite und Intensität digitaler Medien kaum mithalten.
"Kalkulierte Schocker-Momente"
Hinter den Videos steckten nicht unbedingt Rechtsradikale, vermutet Eva Berendsen, Mitautorin des Reports. Oft gehe es schlicht um Reichweite und Klickzahlen. "Schocker-Momente zu Geschichtsthemen kommen kalkuliert zum Einsatz." Likes bedeuteten Monetarisierung.
"In aktuellen Social-Media-Trends wird mit der Idee gespielt, als DJ in einer Gaskammer aufzulegen", sagt Berendsen. Der Algorithmus befördere radikale Inhalte besonders stark.
Unter dem Einfluss von digitalen Plattformen und KI-Anwendungen wachse ein völlig neues Geschichtsverständnis, warnt Direktorin Schnabel, "das von Bildung und Öffentlichkeit noch zu wenig adressiert wird".
Bericht empfiehlt auch positive Beispiele
Der Report schlägt vor, direkt auf den Plattformen für Bildungsangebote zu werben: "Ein massiver Ausbau auf der Angebotsseite wäre - 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und dem Ende des deutschen Faschismus - eine zeitgemäße Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Erinnerungskultur", heißt es.
Für den Digital-Report hat die Bildungsstätte nach eigenen Angaben unter anderem rund 2.000 Beiträge von bekannten rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen Accounts auf Instagram und Tiktok untersucht sowie die Kommentarspalten von Gedenkstätten, Museen und weiteren Bildungsträgern.
Der Report empfiehlt auch gelungene Beispiele von Geschichtsvermittlung in den sozialen Medien.
Wie der Kanal "Kein Thema", mit dem die Arolsen Archives aus Bad Arolsen (Waldeck-Frankenberg) sowohl auf Tiktok, Instagram als auch auf Youtube präsent sind. Hier wird im Stile eines True-Crime-Formats über Nachkriegsverbrechen aufgeklärt. So zum Beispiel: "Auf dem rechten Auge blind: Der Mord an dem Holocaustüberlebenden Shlomo Lewin".