Studie zu Altersdiskriminierung Wie viel Platz ist im Kino für Schauspielerinnen über 60? 

Zu alt mit 35? Schauspielerinnen beklagen es schon seit langem: Sie werden ab einem gewissen Alter einfach nicht mehr besetzt. Ein Forschungsprojekt der Goethe-Universität untersucht jetzt das Phänomen "Ageing out" - und etabliert eine ganz neue Disziplin in der Filmwissenschaft. 

Zwei Frauen mittleren Alters, die eine schaut die andere fragend an
Anke Sevenich (links) und Natalia Wörner in einer Szene des ZDF-Films "Unter anderen Umständen - Für immer und ewig" Bild © picture alliance/dpa/ZDF | Sandra Hoever
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Über 400 Filme will sich der Frankfurter Filmwissenschaftler Vinzenz Hediger in den kommenden vier Jahren vornehmen. Sie alle haben eines gemeinsam: starke Frauen ab 60 Jahren spielen die Hauptrolle, zum Beispiel Catherine Deneuve, Isabelle Huppert, Iris Berben oder Hannelore Elsner.

Hedigers These: Da das Publikum immer älter werde, reagiere die europäische Kino-Industrie auf den demographischen Wandel mit Filmen übers Altwerden. Beispiele sind "Amour" von Michael Haneke oder Andreas Dresens "Wolke 9", beides Filme über Liebe und Sex im Alter. 

Altes Publikum will alte Schauspielerinnen  

Mit dieser starken Hypothese startet Vinzenz Hediger europaweit ein neues Forschungsprojekt zusammen mit Universitäten in Spanien, Frankreich, Italien, England, Ungarn, Rumänien und Ex-Jugoslawien. Hediger baut gerade ein junges Forscher-Team auf, um die Alterswissenschaft in der Filmwissenschaft zu etablieren.  

Untersucht werden Rollen- und Altersbilder von Schauspielerinnen im Alter von 60 bis 80 Jahren. Hediger glaubt: Während im US-amerikanischen Kino das sogenannte "Ageing out" von Schauspielerinnen schon im Alter vor 35 Jahren beginnt, seien im europäischen Arthouse-Kino Publikum und Schauspielerinnen miteinander alt geworden.  

Indirektes Ageing out

Diese Einschätzung widerspricht den Erfahrungen, die Schauspielerinnen ab 60plus etwa in Deutschland machen. Eine starke Stimme in diesem Diskurs um "Ageing out" ist die Frankfurter Schauspielerin Anke Sevenich. Die 64-Jährige ist zwar sehr gut im Geschäft, sie spielt in bekannten TV-Serien, hält Lesungen, spielt am Schauspiel Frankfurt und schreibt selbst Drehbücher. Dennoch kennt auch sie das Phänomen.  

Ihr 2016 mit der Goldenen Lola preisgekröntes Drehbuch "Sayonara Rüdesheim" hatte sie eigentlich für sich als Hauptdarstellerin geschrieben. Gedacht war es als Kinofilm, Sevenich fand aber keinen Produzenten dafür. Die ARD Degeto verfilmte das Buch schließlich als Fernsehfilm – aber mit der 20 Jahre jüngeren Katharina Marie Schubert in der Hauptrolle.  

Anke Sevenich vermutet darin einen Fall von "Ageing out". Die Degeto wollte sich dazu nicht äußern, die betreuende Fernsehfilm-Redaktion im hr erklärte: Es sei üblich bei TV-Adaptionen, dass Regisseur und Redaktion für das Fernsehspiel neue Ideen entwickelten. Keinem Drehbuch sei ein Cast obligatorisch eingeschrieben. Drehbücher würden als Drehbücher eingekauft, danach werde gecastet.

Von der schrillen Alten bis zur kuriosen Wahrsagerin  

Überhaupt sei "Ageing out" eher indirekt zu spüren, meint Anke Sevenich. Zum Beispiel durch die eindimensionalen Rollenangebote für Frauen ab 60plus. Ältere Frauen bekämen meistens "funktionale" Rollen angeboten, die den männlichen Hauptdarsteller weiterbringen, sagt Sevenich.  

Da gebe es "die ältere Nachbarin, die macht dann im richtigen Moment die Tür auf und sagt dem Kommissar, in welche Richtung der Verdächtige abgehauen ist". Die übrigen Rollenprofile changierten zwischen der Kümmernden (die sich um Enkelkinder, Vorgarten und Krokusse sorgt), der zupackenden Ehefrau (die ganz plötzlich und unerwartet, weil der Mann tot umgefallen ist, das Familienunternehmen retten muss), und der "schrillen Alten", der "extravaganten Schwiegermutter" oder der "kuriosen Wahrsagerin".

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Ältere Frauen im Kino

Eine Studie im Auftrag der "MaLisa"-Stiftung von Schauspielerin Maria Furtwängler ergab 2022, dass im deutschsprachigen Kino der Anteil von Frauenfiguren, die älter als dreißig Jahre alt sind, weiterhin abnimmt und mehr als zwei Drittel der zentralen Figuren mit einem Alter über fünfzig männlich sind. Während Protagonistinnen und Protagonisten mit zunehmendem Alter im deutschen Kino insgesamt seltener werden, ist dies bei Frauen schon ab Mitte 30, bei Männern erst ab einem Alter von fünfzig Jahren der Fall.

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Frauen-Geschichten waren lange Mütter-Geschichten

Vinzenz Hediger bestreitet zwar das "Ageing out" für Europa nicht grundsätzlich, sieht aber Unterschiede zu Hollywood, "weil Frauen in der europäischen Filmindustrie als Entscheidungsträgerinnen in den letzten 30 Jahren deutlich an Macht gewonnen haben".

Eine von ihnen ist die Frankfurter Produzentin, Regisseurin und Filmverleiherin Julia Peters. Mit ihrer preisgekrönten Frankfurter Filmfirma jip ist sie spezialisiert auf Filme, die von und mit Frauen gemacht werden, zuletzt der Dokumentarfilm "Mutter, Mutter, Kind". Als Produzentin bekomme sie auch oft Geschichten mit Männern und weniger mit Frauen vorgelegt. Ihre Vermutung: Das liege auch daran, "dass Geschichten von Frauen lange wertlos waren". Ältere Frauen seien in den Drehbüchern immer "nur Mütter" gewesen und mehr nicht.  

Julia Peters sieht aber, dass sich langsam etwas ändert in der Branche. In welche Richtung – das werden Vinzenz Hedigers Forschungsergebnisse in vier Jahren wissenschaftlich belegen.  

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Sendung: hr2-kultur, 07.02.2023, 07.30 Uhr

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Quelle: hessenschau.de/Alexandra Müller-Schmieg