Besucherschlange vor dem Ausstellungsort Fridericianum, an dessen Außenwand Kunstwerke zu sehen sind.

Die Stimmung auf der documenta15 war gut, die Austellungsorte oft voll. Künstler und Kunstexperten schauen trotzdem mit unterschiedlichen Gefühlen zurück auf die Kunstschau in Kassel. Einer suchte sogar vergebens nach Kunst.

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documenta 15: Welche Werke bleiben in Kassel?

hs
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Der Platz vor dem Kasseler Museum Fridericianum, sonst eine Brachfläche mit lieblos hingeworfenen Parkbänken, war in diesem Sommer ein Schmelztiegel: Besucher befragten documenta-Künstler und Künstlerinnen, Kasseler Jugendliche tanzten zu einem spontanen Trommelkonzert, andere suchten Schatten für ein kurzes Nickerchen.

Die aufgeheizte Debatte um Antisemitismusvorwürfe schien auch in den oft gut gefüllten Ausstellungsorten weit weg zu sein. Aber wie war das Kunsterlebnis? Am Sonntag (25.09.2022) endet die documenta, für Künstler und Kunstexperten ist es Zeit, Abschied zu nehmen - und eine erste Bilanz zu ziehen.

"Ruangrupa wurde nicht ernst genommen"

Für den documenta-Künstler Reinaart Vanhoe war es eine lehrsame Zeit, sagt er rückblickend. Bei seinem Projekt in der Weserstraße arbeitete er zusammen mit der Gemeinde und all jenen, die auch sonst regelmäßig an den Ort kommen, etwa zur kostenlosen Lebensmittelausgabe. Man brauchte keine Eintrittskarte, um in den Hof, die Kirche und den Garten zu gelangen.

Vanhoe wollte "Gast und Gastgeber" zugleich sein, nicht immer sei das einfach gewesen. Für ihn sei es trotzdem ein Luxus, dazuzulernen. Eine wichtige Erkenntnis sei: "Konflikte sind überbewertet". Vanhoe kennt die indonesischen Kuratoren Ruangrupa seit über 20 Jahren, er war oft selbst in Indonesien und hat ein Buch über sie geschrieben. Für die documenta zieht er ein gemischtes Fazit, "Ruangrupa wurde nicht ernst genommen, auch weil sie von woanders kommen", kritisiert er.

Blumen anschauen oder die Saat verteilen?

Es habe in der Institution documenta eine Art Angst gegeben, sich auf das Konzept von Ruangrupa einzulassen und etwas anders zu machen: "Die Idee war, die Saat zu verteilen, aber man erwartete von uns fertige Blumen auszustellen", sagt Vanhoe. Ob die documenta etwas bewirkt habe, müsse man in drei oder fünf Jahren nochmal anschauen - wenn die Saat von diesem documenta-Sommer aufgegangen ist.

Dass es noch nicht vorbei ist, sehen auch die Kuratoren von Ruangrupa so, man wolle die Verbindungen und Freundschaften, die in Kassel entstanden sind aufrechterhalten, erklären sie. Sari von Ruangrupa sagt, für sie sei es eine gute Erfahrung gewesen, auch die Themen und Probleme von Künstlern in anderen Ländern mitzubekommen.

Mut zum Kollektiv

So sei das Leben auf den Philippinen immer noch etwas völlig anderes als das in Indonesien, obwohl die Länder nah beieinander liegen. "Man lernt viel voneinander", sagt Sari. Das Prinzip Lumbung, der solidarische Austausch, soll auch in Kassel weitergehen über die documenta hinaus, wünschen sich die Kuratoren.

Karin Melchior betreibt eine Kunstagentur in Kassel, ihr Ehemann Hansjörg Melchior ist Arzt, Kunstsammler und documenta-Enthusiast, seit Jahrzehnten besuchen sie die Kunstschau. Dass die documenta dieses Mal ein Kollektiv aus Indonesien als Kuratoren eingeladen hat, findet Karin Melchior rückblickend eine richtige Entscheidung: "Es ist ein viel größerer Mut nötig als unter den vielen guten Kunstmanagern einen oder eine herauszusuchen."

Wer sagt, was Kunst ist?

Wenn die beiden mit Freunden oder Verwandten auf der documenta waren, versuchte Karin Melchior ihnen eine Sache zu vermitteln: "Wenn man auf diese documenta geht, um Kunst aus unserem europäischen 'Guck' zu sehen, ist man falsch." Wenn ihr Vermittlungsversuch funktionierte, sei jeder Besuch ein "großes Erlebnis" gewesen.

Kunst im herkömmlichen, europäischen Sinne finde sich laut Karin Melchior auf der Kunstschau nicht - dafür aber ein völlig anderer Blickwinkel, jenseits von horrenden Preisen, Luxus und Egozentrik im Kunstmarkt. Für Hansjörg Melchior, der 14 von 15 documenta-Ausstellungen gesehen hat, ist genau das die Botschaft der documenta 15: "Die kleine Welt, die wir darstellen, will bestimmen, was der Rest der Welt als Kunst erlebt und darüber müssen wir uns klar sein."

"Es gibt hier gar keine Kunst"

Aber nicht alle haben auf der documenta15 überhaupt Kunst gefunden. Der Kunsthistoriker Harald Kimpel beschäftigt sich seit Langem mit der Geschichte der documenta. Auf die Frage, was er von der documenta15 hält, sagt er ernüchtert: "Leider gar nichts". Als Kunsthistoriker sei er auf der documenta15 falsch, "es gibt hier gar keine Kunst". Die documenta sei in diesem Jahr regelrecht "entkunstet" worden.

Das Ziel von Ruangrupa sei gewesen, den westlichen Kunstbegriff "radikal und nachhaltig aus den Angeln zu heben", sagt Kimpel, was insofern gelungen sei, als zwar Objekte zu sehen waren, die aber gar keine Kunst sein wollen. Stattdessen seien die ausgestellten Werke eher ein Hintergrund für das, was eigentlich passieren sollte: gemeinschaftliche Vorgänge, bei denen Dinge erarbeitet werden.

Handelskammer macht jetzt Lumbung

Was den Kunsthistoriker Kimpel befremdet, hat ausgerechnet bei der Industrie- und Handelskammer Kassel-Marburg Wirkung gezeigt: Hier wird seit der documenta Lumbung gemacht, für das indonesische Prinzip einer Reisscheune wurde sich eine Scheune auf dem Land gesucht.

"Wir haben dort einen Stuhlkreis aufgestellt, recht spartanisch", erklärt Hauptgeschäftsführer Arnd Klein-Zirbes. Dann kam eine kleine Revolution im Handelskammer-Tagungskonzept: "Wir haben uns davon frei gemacht, dass man eine Tagesordnung, ein Protokoll oder Moderation braucht und haben sozusagen die Gäule laufen lassen". Ohne die documenta hätte die IHK das nie ausprobiert - und immerhin das wird von Lumbung in Hessen bleiben.

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