Michael Karminskys Sammlung Dieser Offenbacher sammelt Russlands politische Exil-Kunst
In einer alten Offenbacher Lederfabrik bewahrt Michael Karminsky über 600 Werke russischer und sowjetischer Künstler auf, die sich gegen staatliche Unterdrückung gestellt haben. Seine Sammlung ist eine der größten ihrer Art in Europa. Sie erzählt von Zensur und künstlerischem Widerstand.
Am 15. September 1974 versammeln sich rund 20 sowjetische Künstler auf einer Kreuzung in einem Moskauer Vorort, um ihre Werke öffentlich zu zeigen, trotz staatlicher Verbote. Sie stellen sich damit offen gegen die strikte Kunstzensur der Sowjetunion. Die ausgestellten Bilder sind abstrakt, persönlich, systemkritisch, und für das Regime eine Provokation. Noch bevor die Ausstellung beginnen kann, greift der Staat mit roher Gewalt ein.
In Anwesenheit westlicher Journalisten erscheinen Polizisten in Zivil, begleitet von Bulldozern und Wasserwerfern. Als angeblich empörte Arbeiter inszeniert, walzen sie die Kunstwerke nieder, schlagen auf Künstler und Zuschauer ein und nehmen mehrere davon fest. Die sogenannte "Bulldozer-Ausstellung" wird zum Symbol für den künstlerischen Widerstand in der Sowjetunion. 1.400 Kilometer entfernt, in der westukrainischen Stadt Czernowitz, hört ein 14-jähriger Michael Karminsky in einem westlichen Radiosender erstmals davon.
Mit Bulldozern zerstörte Kunst
"Ich kannte keinen einzigen Namen, aber für mich waren diese Künstler wie Helden," erzählt Karminsky. In seinem Studio, einer alten Offenbacher Lederfabrik, hängen jetzt die Werke sowjetischer und russischer Nonkonformisten bis unter die Decke. "Sich 1974 gegen eine Macht wie den KGB zu stellen, das war gewaltig und es hat etwas in mir berührt." Auch er habe Verfolgung erlebt, erzählt er. Die Angst vor sowjetischen Behörden sei ihm vertraut, seine Eltern gerieten mehrfach mit dem Regime aneinander. Mehr will er darüber nicht sagen.
1980 zieht Karminsky mit seiner Frau nach Offenbach, arbeitet zunächst unter anderem als Gastronom. Mit Kunst hatte er zu diesem Zeitpunkt kaum noch Berührung. Bis er, eher zufällig, Ėduard Gorochovskij begegnet: Ein Künstler aus dem Umfeld der Bulldozer-Ausstellung, bekannt für seine vielschichtige und regimekritische Bildsprache. "Er war für mich wie ein zweiter Vater", sagt Karminsky. Gorochovskij, der später ebenfalls nach Offenbach zieht, öffnet dem späteren Sammler die Tür zur Kunst. Die beiden werden enge Freunde.
Ohne Politik keine Kunst
Karminsky lernt viele Künstler der Bulldozer-Ausstellung persönlich kennen, darunter Oskar Rabin oder Vladimir Nemukhin, die mittlerweile weltweit ausgestellt sind. Mehrere ihrer Werke finden sich auch in Karminskys Besitz. "Die meisten meiner Bilder habe ich persönlich von den Künstlern gekauft," erzählt er. Hinter jedem Bild in seiner Sammlung stecke deswegen eine persönliche Geschichte.
"Kunst kann nicht leben ohne Politik anzufassen", betont er. "Nur derjenige, der leidet, kann starke Literatur schreiben oder ein wunderschönes Bild malen". Er sammle nicht als Geldanlage, sondern um die Erinnerungen der Künstler zu bewahren. Seine Sammlung erzählt deswegen eine kollektive Geschichte der Unterdrückung. Einst aus der Sowjetunion wegen starker Zensur vertrieben, genießen viele Künstler mittlerweile internationale Anerkennung.
In den Suizid getrieben
Eins der Herzstücke seiner Sammlung ist ein Raum, der fast komplett dem sowjetischen Künstler Nikolai Grizjuk gewidmet ist. Nach eigenen Angaben verfügt Karminsky über die weltweit größte Privatsammlung von Grizjuks Kunst. Der abstrakte Künstler stehe sinnbildlich für die Erfahrungen von vielen seiner Zeitgenossen, erzählt er.
Zu Lebzeiten war der in Novosibirsk lebende Künstler weitestgehend unbekannt. Mit seinen abstrakten Werken hat sich Grizjuk aber gegen die strikte Kunstzensur der Sowjetunion gestellt, die ausschließlich den sozialistischen Realismus geduldet hat: Eine linientreue, heroische Darstellung von Arbeitern und Soldaten. Der sowjetische Geheimdienst KGB habe den Künstler darauf denunziert. In der Presse sei er, trotz seiner Erfolglosigkeit, verfolgt gewesen, erzählt Karminsky.
"Diesen Druck hat er nicht ausgehalten," erzählt der Kunstsammler. "Grizjuk war ein feiner, sensibler Mensch. Als er eines Tages nach Hause kam, stieg er in den fünften Stock und hat sich im Treppenhaus sein Leben genommen." Grizjuk hätte sich nicht beugen wollen, erzählt Karminsky. Er habe seinen Weg gefunden, mit dem sowjetischen Staat umzugehen, indem er in seinen eigenen Tod gesprungen ist.
Gezeichnet von Trauma
Viele russische Nonkonformisten wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Oskar Rabin, Mitorganisator der Bulldozer-Ausstellung, hat später vor allem in Frankreich gelebt und gearbeitet. In seinen meist farblosen Gemälden und Collagen entwirft er eine sowjetische Welt aus Baracken, geprägt von Trostlosigkeit und Trauma. Vâčeslav Sysoevs Werke hingegen tragen eine klare satirische Handschrift. Seine Malweise erinnert an Zeitungskarikaturen. Für seine bissige Kritik hat er mit drei Jahren Gefängnis gezahlt.
Auch zeitgenössische Künstlerinnen wie Ilona Lesnaia sind in Karminskys Sammlung vertreten. Ihre Collagen zeigen Putin geschminkt und feminin inszeniert oder seinen Kopf serviert auf einem Esstisch mitten auf dem Roten Platz. "Putin erscheint hier nicht als Macho auf dem Pferd, sondern als erbärmlicher Mann, der sich an der Krim und dem ukrainischen Volk vergreift", sagt Karminsky, der selbst in der Ukraine aufgewachsen ist.
"Putins Politik ist eine mörderische"
Im Zuge der Perestroika unter Michail Gorbatschow kam es in der Sowjetunion auch zu einer zeitweiligen Förderung der Kunstfreiheit. Unter Wladimir Putin und dessen Geheimdienst FSB sind Zensur und staatliche Repression von Kunst jedoch wieder nach Russland zurückgekehrt.
"Putins Politik ist eine mörderische", sagt Karminsky. Heutzutage käme man sogar für ein leeres Blatt ins Gefängnis, betont er und bezieht sich dabei auf einen Mann in Novosibirsk, der 2022 wegen eines weißen Blattes Papier verhaftet wurde, das für Frieden stehen sollte.
"Heutzutage ist es schwieriger etwas zu machen, was nicht der Regierung gefällt, als sogar noch zu Breschnews Zeiten", sagt Karminsky. Putins FSB habe Spitzel und viele technische Mittel, um Künstler zu beobachten und zu verfolgen. "Und die Künstler, die leben wirklich in Angst."
Ein Spiegel der Geschichte
Diese vernichtete Kunst zu sammeln, das ist für Michael Karminsky auch eine Erinnerung, dass es Blut in der Welt gäbe. "Die Zeiten des schönen Stillleben sind vorbei", proklamiert er. "Wir leben nicht in einer Zeit, in der man glückliche Menschen malen kann." Kunst sei zeitgemäß und müsse den heutigen Zustand der Menschen und deren Leid widerspiegeln.
Michael Karminskys Kunstsammlung in Offenbach ist aus diesem Grund mehr als ein Archiv des Widerstands. Es ist ein Spiegel der Geschichte, der von Schmerz und vom Mut spricht, Konventionen zu brechen und sich einer Unterdrückung zu widersetzen. "Sobald der Mensch fühlt, wird Kunst nie sterben," sagt Karminsky. "Und es wird immer Menschen geben, die fühlen."
In seinem Besitz befinden sich mittlerweile über 600 Gemälde und Skulpturen von über 40 russischen und sowjetischen Nonkonformisten. Wer seine Sammlung besuchen möchte, könne sich jederzeit bei ihm melden. Neben Führungen bietet er sein Studio auch für kleinere Veranstaltungen an.