Pionierin der Hirnforschung Wie die Frankfurter Jüdin Tilly Edinger eine neue Wissenschaft etablierte
Die Frankfurterin Tilly Edinger gilt als eine der wichtigsten Wissenschaftlerinnen des 20. Jahrhunderts. Der breiten Bevölkerung ist sie aber wenig bekannt. Das will die Senckenberg Gesellschaft mit einem neuen Projekt ändern, das auch weitere Forscherinnen beleuchtet.
Sie hat unser Verständnis der Evolution geschärft: Tilly Edingers Interesse an Wissenschaft und Bildung wird ihr quasi in die Wiege gelegt. Geboren wird sie als Johanna Gabriele Ottilie Edinger am 13. November 1897 in Frankfurt. Ihr Vater Ludwig Edinger ist Hirnforscher und gründet das erste Neurologische Institut in Deutschland, das bis heute besteht.
Seine Frau Anna Edinger ist Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin und eine der Stifterinnen der Frankfurter Universität.
Vom Nobelpreisträger getröstet
In ihrem Elternhaus kommt Tilly in Kontakt mit bekannten Wissenschaftlern. Darunter auch Nobelpreisträger Paul Ehrlich, Entdecker des ersten Antibiotikums, der sie wegen eines schlechten Zeugnisses tröstet.
So berichtet es die Historikerin Luisa Kapp, die aktuell im Projekt "Secret Service" Frauenbiografien bei der Senckenberg Gesellschaft erforscht. Sie erzählt, dass Tilly eine sehr fröhliche Person ist, sozial und gesellig, die auch musiziert und bei Theaterstücken mitspielt.
Schon als Kind streift Tilly Edinger mit ihrem Vater durch das Senckenberg Museum. Trotzdem ist der Weg in die Naturwissenschaft nicht vorgezeichnet, denn sie interessiert sich auch für Psychologie und Theaterwissenschaft.
Allerdings wird bei Tilly eine zunehmende Schwerhörigkeit festgestellt, die sie schon mit Anfang 20 sehr beeinträchtigt und ihr nach und nach das Hörvermögen nimmt.
Durch Zufall das Lebensthema entdeckt
Tilly Edinger studiert als eine der ersten Frauen Zoologie, außerdem Geologie und Paläontologie. Sie ist auch die erste Frau, die 1921 in dem Fach promoviert. Bei ihrer Arbeit über das Reptil Nothosaurus entdeckt sie zufällig den versteinerten Kern des Schädels, ein fossiles Gehirn.
Sie forscht weiter und findet unter anderem heraus, dass der Saurier ziemlich schlecht sehen konnte, berichtet Historikerin Luisa Kapp. Tilly Edinger hat ihr Lebensthema gefunden. Und begründet damit eine neue Fachrichtung: die Paläoneurologie.
Riesige Sammlung von fossilen Gehirnen
"Vorher war das fossile Gehirn eine kuriose Nebenerscheinung, niemand hat sich wirklich damit befasst", sagt Luisa Kapp. Aber Tilly bündelt die bestehende Literatur, erweitert sie durch eigene Forschung und erschließt wissenschaftliche Bezeichnungen, also Terminologien, die bis heute Bestand haben. Ihre Arbeit zeigt, wie wichtig es ist, die Evolution des Gehirns auf der Grundlage fossiler Beweise zu untersuchen, statt moderne Arten zu vergleichen.
Auch ihre riesige Sammlung von fossilen Gehirnen existiert bis heute bei Senckenberg. Darunter ein Ausguss der Schädelhöhle eines Triceratops, der in der neuen Dauerausstellung "Gehirne" im Naturmuseum Senckenberg zu sehen ist.
"Ich gehöre nach Frankfurt"
Tilly übernimmt bei Senckenberg die Leitung der Sammlung fossiler Wirbeltiere und hat so neue Möglichkeiten für ihre Forschung. Für die sie übrigens nicht bezahlt wird, aber wirtschaftlich ist sie durch ihre wohlhabende Familie abgesichert. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 müsste sich Tilly Edinger als Jüdin eigentlich in Sicherheit bringen. Aber das Museum hält an seinen jüdischen Mitarbeiterinnen fest.
Also bleibt Tilly, weil sie sich ihrer Arbeit und Frankfurt tief verbunden fühlt: "Ich gehöre nach Frankfurt, ich kann hier nicht weg", erklärt sie später in einem Interview.
Arbeit bis zum Ende
Noch am Tag vor der Reichspogromnacht am 9. November 1938 arbeitet Tilly Edinger im Senckenberg Museum. Doch dann beginnt die systematische Verfolgung von Juden. Tilly Edinger muss sich verstecken und kann schließlich über London in die USA fliehen. Die Nationalsozialisten haben derweil ihr gesamtes Vermögen einkassiert.
Tilly darf nur zehn Reichsmark, zwei Löffel, Gabeln und Messer mitnehmen, erzählt Luisa Kapp. Aber auch die Notizen für die Überarbeitung ihres Werks über fossile Gehirne. Tilly ist sich sicher: "So oder so werden die fossilen Wirbeltiere mich retten."
Zweite Karriere in den USA
So kommt es auch. Tilly Edinger kann mit ihrer Expertise in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts am Harvard Museum of Comparative Zoology arbeiten und ihre Forschung fortsetzen. Allerdings hat sie anfangs kaum Geld und muss sie sich mit 50 Dollar pro Monat durchschlagen. Auf jeglichen Luxus, den sie aus ihrem Leben in Frankfurt gewohnt ist, muss sie verzichten.
In den USA erforscht sie unter anderem die Evolution von Pferdegehirnen. Und dabei zum Beispiel festgestellt, "dass die Evolution in manchen Teilen des Gehirns schneller verlief als in anderen", sagt Luisa Kapp. Heute hätten Forscher dafür andere Möglichkeiten, wie 3D-Drucker und Scans. "Aber die Grundzüge stammen weiterhin von Tilly Edinger."
Heimat und Familie zerstört
Tilly Edinger entdeckt die USA als "Land der Wirbeltier-Paläontologie". Hätte sie das früher gewusst, wäre sie rechtzeitig ausgewandert, sagt sie später in einem Interview. Und obwohl sie als Frau nicht den Rang einer Professorin erreicht, erlebt sie die Wissenschafts-Community weniger steif als in Deutschland.
Noch ein paar Mal besucht sie Frankfurt, in ihrem Appartment in Cambridge hängt ein Abbildung der Stadt aus dem 17. Jahrhundert. Aber der Krieg und die Nationalsozialisten haben ihre Heimat und ihre Familie zerstört. Inzwischen ist sie amerikanische Staatsbürgerin.
"Sie hat sich nicht unterkriegen lassen"
Am 26. Mai 1967 wird Tilly Edinger vor dem Harvard-Museum von einem Auto erfasst, das sie möglicherweise nicht gehört hat. Am Tag darauf stirbt sie. Erst jetzt kehrt Tilly Edinger in ihre alte Heimat zurück: Die Urne mit ihrer Asche ist im Grab ihrer Eltern auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beigesetzt.
Tilly Edinger bleibt die Wissenschaftspionierin aus Frankfurt, deren Forschung bis heute gültig ist und fortgeführt wird. Für Luisa Kapp ist sie außerdem ein Vorbild durch ihre "unglaubliche Durchhaltekraft", mit der sie Widerstände und Schicksalsschläge wie ihre Flucht, den Verlust der Familie und ihre Taubheit überwunden hat: "Sie hat sich nicht unterkriegen lassen."