Foto von einem Smartphone, auf dessen Screen blau das Twitterlogo leuchtet. Auf dem Bild eine kleine, farbige Grafik mit dem Schriftzug "war was?".

Die Deutsche Nationalbibliothek will vier Milliarden Tweets archivieren. Für unseren Kolumnisten der schlimmste Job der Welt.

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Deutsche Nationalbibliothek will deutschsprachiges Twitter archivieren.

Handy mit Twitter-Symbol, Elon Musk im Hintergrund
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Hessen, das Bundesland, in dem immer was los ist. An dieser Stelle wirft unser Kolumnist Stephan Reich mit seiner Glosse "War was?" jeden Freitag einen ganz eigenen Blick auf die Nachricht der Woche. Nehmen Sie diesen Blick bitte auf keinen Fall ernst.

Vor ein paar Wochen habe ich mich von Twitter abgemeldet. Mein Leben ist seither ein einziger emotionaler Club-Med-Urlaub. Ich ruhe in mir und spüre eine tiefe Verbundenheit mit der Welt, Sonnenstrahlen kitzeln meine Haut, kleine Comic-Vögelchen fliegen durch mein Fenster in den Raum wie in einem Disney-Film und necken mich, ein Schmetterling setzt sich auf meine Nase, ich lache, die Menschen halten sich an den Händen und singen Kumbaya, wer will, kriegt ein Eis.

Na ja, ganz so ist es vielleicht nicht, aber es geht schon ein wenig entspannter zu. Lange hat mir Twitter Spaß gemacht, aber in den vergangenen Jahren ist es eine reine Schlechte-Laune-Maschine geworden. Ein digitaler Ort, an dem alle ständig wütend sind und sich wegen jedem Schmu die digitalen Köpfe einschlagen. In diesem Sinne gilt mein aufrichtiges Beileid Britta Woldering von der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt.

"Bewahrung des digitalen Kulturerbes

Woldering ist bei der Nationalbibliothek für die digitale Web-Archivierung zuständig und arbeitet nun daran, sämtliche rund vier Milliarden (!) deutschsprachigen Tweets zu archivieren, die jemals geschrieben wurden. Grund dafür ist das, nennen wir es mal: erratische Verhalten des neuen Twitter-Besitzers Elon Musk, bei dem nicht unbedingt vorhersehbar erscheint, was er morgen mit der Plattform vorhat. Daher gehe es um die "Bewahrung des digitalen Kulturerbes", so Woldering.

Was für eine Aufgabe. Vier Milliarden Tweets, jesses. Zumal ja ungefähr die Hälfte davon irgendwelche Beleidigungen, Shitstorms, Streitereien oder ähnliches betreffen dürfte. Ich würde wahrscheinlich eher beruflich barfuß gegen Türrahmen treten, fünf Tage die Woche, von acht bis 17 Uhr, eine Stunde Mittagspause, 28 Urlaubstage im Jahr, ein okayes Einkommen, als mich durch vier Milliarden Tweets zu wühlen. Das scheint mir eine todsichere Art, ein wassermelonengroßes Magengeschwür auszubilden.

"Wir trinken Bier nur an Tagen, die mit 'g' enden. Und mittwochs!"

Was aber ja nicht immer so war. Ich bin alt genug, mich an die seligen, unschuldigen Social-Media-Zeiten zu erinnern. Bei MySpace präsentierte man der Welt (bzw. vier, fünf ihrer Bewohner) seine Lieblingssongs. Auf StudiVZ versammelte man sich in Gruppen mit geht-so-witzigen Namen wie "Wir trinken Bier nur an Tagen, die mit 'g' enden. Und mittwochs!" und probierte sich an der Kulturpraktik des Gruschelns. Und auf Facebook konnte man sich mit alten Freunden verbinden, witzige Links teilen und hups, die Eltern sind ja plötzlich auch da und hups, was sind das für komische, gar nicht mehr witzige Links …

… und hups, wer sind diese Leute, die plötzlich mit Hörnern auf dem Kopf die Scheiben des Washingtoner Capitols einschlagen oder Links über Echsenmenschen oder die gefakte Mondlandung oder irgendwelchen Impf-Quatsch teilen und die Gruppen heißen plötzlich auch eher "Flat Earth Society" oder "Königreich Deutschland" und diese und jene Wahl war auf jeden Fall gefälscht, weil der Bot mit dem KI-generierten Gesicht im Profilbild das auf Facebook oder Twitter halt gesagt hat und hups, lebt es sich plötzlich in einer sehr viel gespalteneren Welt.

Die Erde zugleich flach und hohl

Vielleicht ist der Mensch ist einfach nicht geschaffen für Social Media. Letztlich kultivieren wir in den Netzwerken negative Emotionen, weil sie belohnt werden, wir haben uns durch Twitter und Co. direkte Zugänge für Unwahrheiten, für Wut, für Dissens gelegt, während so etwas wie eine gemeinsame Wahrheit erodiert. Man kann sich, mal sehr bildlich gesprochen, durch Social Media umweglos ins Hirn sch***en lassen.

Aber vielleicht macht genau das Twitter ja so archivierenswert. Vielleicht gucken Forscher in 100 Jahren auf die Twitter-Archive und denken: Wow, wie sich der User da mit "Selber denkend" in der Bio und den vielen Fahnen im Usernamen hat einreden lassen, dass eine geheime Echsenmenschen-Rasse die Geschicke der Welt leitet, die er zugleich für flach und hohl hält, das ist schon erstaunlich. Lasst uns das analysieren.

"Nicht im Detail lesen, was da geschrieben steht"

"Social Media ist Teil des hybriden Mediensystems in Deutschland. Das fällt in unseren Sammelauftrag", sagt Woldering. Aber immerhin: Es gehe der Nationalbibliothek eher um die Analyse großer Datenmengen, man werde "nicht im Detail lesen, was da geschrieben steht". Falls das dann aber doch jemand machen muss, irgendein argloser, bedauernswerter Praktikant oder so, sei er an dieser Stelle im übertragenen Sinne aufmunternd gegruschelt. Und vielleicht hilft ja die gute alte StudiVZ-Strategie. Bier trinken an Tagen, die mit 'g' enden. Und mittwochs.

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