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Die Geschichte der NSU-Akten

NSU Akten

Der Leak der sogenannten NSU-Akten rückt die teils Jahrzehnte lang zurückliegenden rechtsextremistischen Morde und ihre Aufarbeitung erneut ins Licht der Öffentlichkeit. Eine Chronologie der Ereignisse in Hessen.

Die Veröffentlichung von 173 Seiten eines Berichts des hessischen Verfassungsschutzes, umgangssprachlich bekannt als die "NSU-Akten", wirft ein neues Schlaglicht auf die rechtsextremistische Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) in Deutschland - und deren schleppende Aufarbeitung durch Behörden. Zwei der Morde geschahen mit Bezug zu Hessen. Ein Rückblick:

9. September 2000: Mord an Enver Şimşek in Nürnberg

Der Blumenhändler Enver Şimşek aus Schlüchtern (Main-Kinzig) vertritt an diesem Tag einen Kollegen an dessen Verkaufsstand in Nürnberg. Hier treffen ihn fünf Kugeln aus zwei Waffen in den Kopf. Zwei Tage später stirbt Şimşek im Krankenhaus. Es ist der erste von insgesamt zehn Morden, für die später die Terrorzelle NSU verantwortlich gemacht wird.

Die Spekulationen der Ermittlerinnen und Ermittler gehen über ein Jahrzehnt zunächst in die falsche Richtung: Nie werden Täterinnen oder Täter aus dem rechten Milieu verdächtigt, stattdessen zwischenzeitlich sogar Şimşeks Angehörige. Erst als die Täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sich im November 2011 selbst töten und bei ihnen ein Bekennervideo und eine Tatwaffe gefunden wird, fliegt die Terrorzelle auf.

Şimşeks Angehörige aus Schlüchtern sind Jahre später Nebenkläger im Münchener NSU-Prozess. Sie werden von der Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız vertreten.

Enver Simsek

April 2006: Mord an Halit Yozgat in Kassel

Der 21 Jahre alte Halit Yozgat wird am 6. April 2006 in seinem Internetcafé in Kassel mit zwei Schüssen in den Kopf niedergeschossen. Sein Vater Ismail Yozgat findet ihn um kurz nach 17 Uhr blutend hinter dem Tresen, wenig später stirbt der Sohn in seinen Armen. Die Minuten um den Tatzeitraum geben bis heute Rätsel auf. Niemand der Anwesenden im Café will die Tat gesehen haben.

Mit einem Bild seines ermordeten Sohnes Halit erschien Vater Ismail Yozgat zu einer Sitzung des NSU-Ausschusses im Landtag.

Klar ist: Der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme war am Tatort - entweder während der Tat oder wenige Augenblicke davor. Später wird festgestellt, dass Temme 16.51 Uhr bis etwa 17.01 an einem Computer des Cafés eingeloggt war. Temme sagt, er habe in einem Online-Dating-Portal gechattet und den Cafébetreiber Yozgat nicht hinter dem Tresen gesehen, als er das Gebäude verließ.

2006: Ermittlungen gegen Verfassungsschützer Temme

Andreas Temme meldet sich nach der Tat in Kassel trotz seiner Anwesenheit im Internetcafé nicht als möglicher Zeuge. Er wird vom Dienst suspendiert und gerät zwischenzeitlich auch unter Mordverdacht. Im Januar 2007 stoppt die Kasseler Mordkommission die Ermittlungen gegen ihn. Rund zwei Monate später stellt das Landesamt für Verfassungsschutz auch ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein.

Oktober 2006: Bouffier lehnt Befragung von V-Leuten ab

Volker Bouffier (CDU) trifft als hessischer Innenminister eine umstrittene Entscheidung: Er lehnt ab, dass Ermittlerinnen und Ermittler im Kasseler Mordfall V-Leute von Verfassungsschützer Andreas Temme persönlich befragen. Es handelt sich um Informanten aus dem rechtsradikalen Milieu.

2012: Innenminister gibt Berichte in Auftrag

Erst nach der Enttarnung des NSU 2011 wird den Behörden klar, dass Rechtsextremisten für die Mordserie verantwortlich sind. Der spätere Regierungschef Boris Rhein (CDU) ist zu diesem Zeitpunkt Innenminister. Er beauftragt zwei Berichte bei dem ihm unterstellten Landesamt für Verfassungsschutz. Es soll so die eigene Arbeit im Hinblick auf Rechtsextremismus und mögliche Versäumnisse in den Jahren 1992 bis 2012 aufarbeiten.

Diese Berichte sind heute umgangssprachlich als die "NSU-Akten" bekannt, heißen aber offiziell "Aktensichtung 2012 - Fachlicher Abschlussbericht zur Aktenprüfung im LfV Hessen" und "Abschlussbericht zur Aktenprüfung im LfV Hessen im Jahre 2012".

Mai 2014: NSU-Untersuchungsausschuss beginnt

Es wird der längste und umfangreichste Untersuchungsausschuss, den es in Hessen bislang gab: Vier Jahre lang werden rund 100 Zeuginnen und Zeugen im hessischen Landtag angehört. Der Ausschuss soll herausfinden, ob hessische Behörden bei der Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat in Kassel Fehler gemacht haben.

2016: Wie glaubhaft ist Temme?

Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme bleibt im hessischen Untersuchungsausschuss bei seiner Argumentation, er sei rein zufällig am 6. April 2006 im Internetcafé von Yozgat gewesen, er habe nichts vom Mord mitbekommen und auch vorher nichts gewusst.

Im U-Ausschuss kommt zutage, dass Temme Anfang der 90er Jahre Kontakt zur rechten Rocker-Gruppierung Hells Angels gehabt und als Jugendlicher Abschriften von Hitlers "Mein Kampf" angefertigt hat. Temme streitet jedoch ab, eine rechte Gesinnung zu haben.

Aus Sicht vieler Beobachterinnen und Beobachter sind seine Aussagen nicht glaubwürdig. Am 12. Juli 2016 kommen die Richterinnen und Richter im NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München zu einem anderen Schluss: Temmes Angaben seien trotz offener Fragen glaubhaft.

März 2017: Linksfraktion wirft Temme Lüge bei NSU-Befragung vor

Temme hatte im NSU-Untersuchungsauschuss des Bundestags gesagt, die Morde des NSU seien vor dem Kasseler Mordfall dienstlich nie ein Thema gewesen. Die Linksfraktion im Landtag will Belege dafür haben, dass dies nicht stimmt und wirft Temme vor, gelogen zu haben. In der Folge ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin, stellt die Ermittlungen aber im Mai 2018 wieder ein - der Vorwurf lasse sich nicht bestätigen, heißt es.

Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme

Juni 2017: Bouffier weist Vorwürfe zurück

Mittlerweile ist Volker Bouffier (CDU) hessischer Regierungschef und sagt im Untersuchungsausschuss aus. Kritikerinnen und Kritiker werfen ihm in seiner vorherigen Position als Innenminister vor, die Ermittlungen im Fall Yozgat behindert zu haben, weil er die direkte Befragung der V-Leute blockiert hatte. Bouffier weist die Vorwürfe im Untersuchungsausschuss zurück und sagt, er habe nach Recht und Gesetz gehandelt.

Juni 2018: Kein gemeinsamer Abschlussbericht im NSU-Ausschuss

Nach vier Jahren und 66 Sitzungen, die zu weiten Teilen von parteipolitischem Streit geprägt waren, endet der Untersuchungsausschuss zum NSU im hessischen Landtag. Die Fraktionen können sich nicht auf einen gemeinsamen Abschlussbericht einigen. Die oppositionelle SPD wirft den Regierungsparteien von CDU und Grünen vor, die Verantwortung der damals Handelnden nicht klar benennen zu wollen.

August 2020: Geheimhaltungsfrist der NSU-Akten wird auf 30 Jahre gesenkt

Die Prüfberichte über die Arbeit des Verfassungsschutzes - die sogenannten NSU-Akten - sollten ursprünglich für 120 Jahre unter Verschluss bleiben: bis zum Jahr 2134. Weder Verantwortliche in den Behörden noch betroffene Angehörige der NSU-Mordopfer werden dann noch am Leben sein, so die Kritik aus Teilen der Zivilgesellschaft und der Opposition. Die Geheimhaltungsdauer wird nun auf 30 Jahre gesenkt, doch auch diese Dauer trifft bei vielen auf Unverständnis.

Februar 2021: Petition fordert Freigabe der sogenannten NSU-Akten

Die Petition "Geben Sie die NSU-Akten frei!" wird an den Petitionsausschuss des Landtags übergeben. Die Initiatorinnen und Initiatoren fordern vollständige Offenlegung der Akten für die Öffentlichkeit. Sie halten die lange Sperrfrist für ein "fragwürdiges und undemokratisches Instrument".

Es unterschreiben rund 134.000 Menschen, dennoch stimmen die Regierungsparteien von CDU und Grünen gegen die Offenlegung des Prüfberichts. Die Argumentation: Die Dokumente enthielten Informationen über den Verfassungsschutz, die die Arbeit der Behörde und der Informanten gefährden könnten.

Oktober 2022: "Frag den Staat" und "ZDF Magazin Royale" veröffentlichen die Dokumente

"Frag den Staat" und das "ZDF Magazin Royale" veröffentlichen nach eigenen Angaben die sogenannten NSU-Akten - aus Quellenschutz-Gründen in abgetippter Form in einem neuen Dokument. Die Reaktionen auf den Leak fallen unterschiedlich aus: Während die Linken den Bericht als "Pulverfass" sehen, ist aus Sicht der CDU die Grenze der Pressefreiheit überschritten.

Der hessische Verfassungsschutz bestätigt unterdessen, dass es sich um die als Verschlusssachen eingestuften Aktenprüfberichte handle, die sich mit der Arbeit des Verfassungsschutzes im Hinblick auf Rechtsextremismus beschäftigt haben. Die Behörde betont jedoch, dass es sich nicht um "NSU-Akten" handle, da sich die Dokumente nicht mit dem NSU selbst beschäftigten.

Weiter hieß es, das Landesamt habe Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet. Die Weitergabe von Verschlusssachen an Unbefugte sei eine Straftat.

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