Spanische Polizisten gehen mit einem Feuerlöscher gegen einen Mann vor, der die Grenze zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla überqueren wollte.

Prominente, Politiker und Menschenrechtsorganisationen protestieren gegen eine geplante Reform des EU-Asylrechts. Im Interview erklärt der Migrationsexperte Maximilian Pichl, warum die Empörung so groß ist und die Entscheidung fatale Folgen haben könnte.

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Offener Brief der Seebrücke in Marburg übergeben

Mitglieder der Seebrücke bei Protestaktion in Marburg mit Schildern und Fahnen
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Aktualisierung vom 08.06.2023:

Die Asylverfahren in der EU sollen angesichts der Probleme mit illegaler Migration deutlich verschärft werden. Bei einem Innenministertreffen in Luxemburg stimmte am Donnerstag eine ausreichend große Mehrheit an Mitgliedstaaten für umfassende Reformpläne, wie der schwedische Ratsvorsitz mitteilte. Sie sehen insbesondere einen deutlich rigideren Umgang mit Migranten ohne Bleibeperspektive vor.

So sollen ankommende Menschen aus als sicher geltenden Ländern künftig nach dem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort würde dann im Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden.

Denkbar ist, dass das EU-Parlament noch Änderungen durchsetzt. Es hat bei der Reform ein Mitspracherecht und wird in den kommenden Monaten mit Vertretern der EU-Staaten über das Projekt verhandeln. (Quelle: dpa)

Das folgende Interview und der einleitende Text entstanden vor dieser Entscheidung.

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Am Donnerstag könnte der Weg frei gemacht werden für eine weitreichende Entscheidung in der Asylpolitik der EU: Die EU-Innenminister und -ministerinnen treffen sich in Luxemburg, um über das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zu beraten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wird für die Ampel-Koalition voraussichtlich zustimmen.

Die anstehende Reform bekommt auch deswegen so viel Aufmerksamkeit, weil die Kritik an den Plänen und der Haltung der Bundesregierung so laut ist: Das Bündnis Seebrücke Marburg hat am Dienstag im Rathaus der Stadt einen Protestbrief eingereicht; 730 Grüne zeigen sich "erschüttert" und haben einen Offenen Brief an die eigene Parteiführung unterzeichnet; mehr als 50 Prominente haben vorab die anstehende Entscheidung scharf kritisiert; auch Menschenrechtsorganisationen wehren sich gegen die Verschärfungen. Der Vorwurf: Die EU plane eine Politik der Abschreckung, Abschottung und eine Einschränkung des Rechts auf Asyl.

Maximilian Pichl ist Rechts- und Politikwissenschaftler und derzeit Vertretungsprofessor an der Universität Kassel. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen des Asylrechts und erklärt im Interview, warum es so viel Kritik an den Plänen gibt - und die Entscheidung auch künftigen Regierungen Fesseln an die Hände legen könnte.

hessenschau.de: Herr Pichl, wo sehen Sie Probleme bei den Plänen der EU?

Maximilian Pichl: Es stehen Vorschläge der EU-Kommission zur Debatte, die in wesentlichen Fragen den Zugang von Schutzsuchenden zum europäischen Rechtsstaat versperren. Beispielsweise indem bei vielen Personen Asylverfahren gar nicht mehr inhaltlich geprüft werden, also Fluchtgründe nicht mehr vorgetragen werden dürfen, und sie dann in sichere Drittstaaten abgeschoben werden sollen.

Das ist alles nicht ganz neu, das sind Mechanismen, die wir in den letzten Jahren schon auf den griechischen Inseln beobachten konnten wegen des EU-Türkei-Deals. Aber es macht einen Unterschied, ob das nur eine informelle oder nationale Praxis ist oder ob das in europäisches Recht gegossen wird.

hessenschau.de: Geflüchtete haben also kaum noch eine Chance, etwa an eine deutsche Grenze zu gelangen, um hier einen Asylantrag zu stellen?

Pichl: Es führt dazu, dass Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen festgesetzt werden. Viele Migrationsforscher und -forscherinnen gehen davon aus, dass das mit Haft einhergehen wird. In der Ostägäis etwa wurden entsprechende geschlossene Zentren in den letzten Jahren schon aufgebaut. Es wird aber immer Menschen geben, die versuchen werden, sich dieser Festsetzung zu entziehen und dann weiterzuwandern.

Ein Bild von Maximilian Pichl

hessenschau.de: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) haben zuletzt in Medien verbreitet, für Kinder und Familien solle es doch Ausnahmen geben. Wie bewerten Sie das?

Pichl: Es gibt erhebliche Kritik gegen das EU-Asylpaket aus der Wissenschaft, aber auch innerhalb der Parteien, die das in der Bundesregierung mittragen. Das mit den Kindern und Familien scheint mir ein Zugeständnis, um das Ganze öffentlich als präsentabel zu verkaufen. Aber: Der Rechtsstaat soll für alle gelten, nicht nur für Familien mit Kindern. Die Grenzverfahren sind an sich problematisch.

hessenschau.de: Es gab offene Briefe von Menschenrechtsorganisationen und Prominenten gegen die Pläne der EU. Hat das alles überhaupt noch einen Einfluss?

Pichl: Ich beobachte, dass diese Reform von vielen Teilen der Zivilgesellschaft nicht hingenommen wird und dass Parteien wie die Grünen und die SPD unter Druck geraten, deren Ministerien der aktuellen Verhandlungsposition zugestimmt haben. Am Ende wird das SPD-geführte Innenministerium beim Europäischen Rat verhandeln.

hessenschau.de: Innenministerin Faeser, Spitzenkandidatin ihrer Partei bei der Landtagswahl im Herbst, machte sich als hessische SPD-Chefin gegen Rechtsextremismus stark, etwa nach dem Attentat in Hanau, und für eine Politik der Vielfalt. Wo steht sie jetzt?

Pichl: Faeser stand in Hessen auch bei der Aufarbeitung des NSU-Komplexes eigentlich immer für eine Position, die versucht hat, sich rechten Stimmungen entgegenzustellen. Aktuell hat sie viele Law-and-Order-Positionen übernommen, die es schon unter dem vorherigen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) gab.

Da wird aktuell nicht versucht, einen progressiven Vorschlag zu machen für mehr Rechte für Geflüchtete. Sondern es geht hauptsächlich um Entrechtung und den Versuch, die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz entweder auf die Staaten an den EU-Außengrenzen oder auf Drittstaaten zu übertragen.

hessenschau.de: Gab es überhaupt eine Möglichkeit, die voraussichtliche Entscheidung am Donnerstag noch zu verhindern oder zu drehen?

Pichl: Der Ampel-Koalitionsvertrag hat jedenfalls nicht in die Richtung gedeutet, dass die Bundesregierung jetzt eine derart restriktive Position einnimmt. Als federführende Ministerin hätte Innenministerin Faeser Einflussmöglichkeiten gehabt, eine andere Antwort auf diese Krise zu geben. Wir sehen jetzt, dass viel fortgeführt wird, was auch früher schon problematisch war.

hessenschau.de: Auch von Politikern und Politikerinnen der Grünen gibt es Protest. Und Grünen-Wähler haben womöglich etwas anderes erwartet in Sachen Asylthemen als das, was sie von der Partei gerade in der Bundesregierung sehen.

Pichl: Es gab in den vergangenen Jahren eine Reihe von Asylrechtsverschärfungen in Deutschland, die teils in den Ländern auch von grünen Akteuren mitgetragen wurden wie in Hessen und Baden-Württemberg, zum Beispiel Abschiebungen ins Bürgerkriegsland Afghanistan. Flüchtlingspolitische Positionen wurden in der Vergangenheit schon geschleift.

Trotzdem hätte man auf der Bundesebene erwarten können, dass die Grünen bei den migrationspolitischen Grundsatzentscheidungen stärker beharren. Man sieht aber jetzt, dass die aufgeladene gesellschaftliche Stimmung die Parteien links der Mitte vor sich her treibt.  

hessenschau.de: Sie nennen das "moralische Panik" und die Vorstellung, wir würden "wieder überrannt" von Flüchtlingen.

Pichl: Wir sind in einem Modus wie vor der Pandemie. Während Corona kamen viele Geflüchtete an den Grenzen nicht weiter. Viele Migrationswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen haben vorhergesagt, dass wieder mehr Menschen kommen werden.

Es ist ein Versagen der Politik und der Verwaltung, dass man nicht auf ein nachhaltiges Aufnahmesystem gepocht hat. Man hätte Unterkünfte bereitstellen können, Mietverträge entfristen, auch Fachpersonal entfristen können. Die Überlastungssituation ist in mancher Hinsicht hausgemacht. Es wäre möglich, dass Menschen schneller einen Zugang zu Arbeit, Wohnungen und Sprachkursen bekommen.

Aber all das wird verhindert durch Asylrechtsverschärfungen und dadurch, dass man darauf beharrt, Menschen in großen Unterkünften festzusetzen, wo es hausgemacht ist, dass es dort zu Konflikten kommt. Es gibt auch viele Kommunen, die weiterhin aufnahmebereit sind, wie das Bündnis Sicherer Hafen zeigt (in Hessen sind darin 26 Großstädte und Kommunen, darunter Frankfurt, Wiesbaden, Marburg, Kassel, Darmstadt und Gießen, Anm. d. Red.). In der Debatte wird nur einem Teil der Kommunen selektiv zugehört und dann so getan, als gäbe es eine einheitliche kommunale Position. Das verzerrt die öffentliche Debatte.

hessenschau.de: Was wird für die Geflüchteten die härteste Veränderung in Zukunft sein, wenn das Asylpaket durchgeht?

Pichl: Es wird mehr vom Alten geben: Ich befürchte mehr Pushbacks an den Außengrenzen, mehr Entrechtung, weniger Rechtsschutz, weil die Staaten an den EU-Außengrenzen weiter allein gelassen werden - auch von Zentraleuropa.

Ich war und bin ein Kritiker des bisherigen EU-Asylrechts, aber das jetzige ist dann doch besser als das, was von der EU-Kommission vorgeschlagen wird.

Und das europäische Recht steht über dem nationalen Recht. Egal welche Bundesregierung es in Zukunft gibt, egal ob diese wieder eine menschenrechtsorientiertere Flüchtlingspolitik machen will: Dieser EU-Pakt ist bindend und legt der Regierung restriktive Fesseln an die Hände.

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