Reaktionen auf Merz-Debakel bei Kanzlerwahl Rhein hofft auf "Votum der Verantwortung", SPD spricht von "Härtetest"
Das Desaster von CDU-Bundeschef Merz im ersten Durchgang der Kanzlerwahl hat auch die schwarz-rote Koalition in Hessen kalt erwischt. Ministerpräsident Rhein reagiert vor dem zweiten Versuch mit einem Appell, Juniorpartner SPD ist besorgt. Und die erste Schuldzuweisung unter Partnern kam rasch.
Was es in Hessen seit bald eineinhalb Jahren gibt, soll auch in der Bundespolitik aufgelegt werden: eine schwarz-rote Koalition. Nach dem historisch einmaligen Scheitern von CDU-Bundeschef Friedrich Merz beim ersten Kanzler-Wahlgang im Bundestag am Dienstag muss der Schock bei Union und SPD in Wiesbaden groß gewesen sein.
Wenn es bei CDU-Landtagsfraktionschefin Ines Claus so war, versuchte sie, es sich nicht anmerken zu lassen. "Vielleicht ist es besser, manchmal keinen ganz so guten Start zu haben, damit dann die Regierungsarbeit umso besser wird", sagte sie dem hr. Die Ampel-Regierung sei dagegen mit großer Harmonie und Selfies gestartet, um am Ende zu zerbrechen.
CDU-Ministerpräsident Boris Rhein, der bei der Landtagswahl 2023 mit dem gegen die damalige Bundesregierung gerichteten Slogan "Kurs statt Chaos" erfolgreich war, appellierte in einer kurzen Mitteilung: "Nötig sind ein zweiter Wahlgang und ein Signal der Stabilität für unsere Demokratie." Diesen zweiten Anlauf sollte es noch am Dienstagnachmittag geben.
Hoffen auf Durchgang zwei
Rhein, der auch CDU-Landesvorsitzender ist, sprach von einem "Votum der Verantwortung", das nötig sei. Nun brauche es im Bundestag eine Kanzlermehrheit für den Politikwechsel, den die Menschen erwarteten.
CDU-Fraktionschefin Claus gab sich überzeugt, dass Merz trotzdem noch gewählt werde. Auch bei früheren Wahlen hätten die Kanzler nicht alle Stimmen aus ihrem Lager bekommen, sagte die CDU-Politikerin. Merz war am Dienstagvormittag als erster deutscher Kanzlerkandidat, der sich zur Abstimmung im Parlament stellte, im ersten Wahlgang gescheitert - und das deutlich. Ihm fehlten sechs Stimmen zur Mehrheit. Insgesamt 18 Stimmen aus dem Lager von CDU/CSU und SPD blieben ihm versagt.
Warnung vor "lachenden Rechtsextremen"
Der kleinere Koalitionspartner in Hessen wurde deutlicher als die Union. "Wir sind überrascht", sagte Josefine Koebe, Generalsekretärin der Hessen-SPD. Die nächsten Tage würden nun "ein Härtetest, noch bevor es richtig losgeht". Sie sei aber davon überzeugt, dass die Partei- und Fraktionsführungen in Berlin nun ein "geordnetes und klärendes Vorgehen finden". Da stand noch nicht fest, dass der zweite Wahlgang doch schon am Dienstag läuft.
Koebe warnte vor "lachenden Rechtsextremen". Die Sorge: Jene könnten Profiteure eines erneuten Scheiterns sein. Sie appellierte an Verantwortungsbewusstsein in beiden Fraktionen: "Es braucht jetzt Professionalität, Verständigung und ein Miteinander - keine Spielchen, kein Blame Game, kein Chaos.“
CDU-Abgeordneter wirft SPD "Schande" vor
An Schuldzuweisungen wollte sich auch CDU-Landtagsfraktionschefin Claus nicht beteiligen, wie sie sagte. Und doch gab sie sich gewiss, dass die Abweichler nicht aus den Reihen von CDU und CSU kämen.
Es habe schließlich vorher einen Zählappell und nach der Abstimmungsniederlage Beifall im Stehen von der Bundestagsfraktion für Merz gegeben. Laut Claus steht auch die Landtagsfraktion geschlossen hinter dem Kanzlerkandidaten.
Unmissverständlich harsche Schuldzuweisungen kamen trotzdem, wenn auch aus der zweiten Reihe der Hessen-CDU. "Eine Schande" - so quittierte der CDU-Landtagsabgeordnete Lucas Schmitz auf X, dass man Merz krachend durchfallen ließ.
Obwohl die Abstimmung geheim war, stehen für den 31-Jährigen die Verantwortlichen fest: Den Titel des Koalitionsvertrags "Verantwortung für Deutschland" hätten einige SPD-Abgeordnete wohl nicht begriffen. Schmitz ist Mitglied der "Jungen Gruppe" seiner Landtagsfraktion.
Michelle Breustedt, Chefin der Jusos Hessen-Süd, konterte dagegen mit Hinweis auf rund 85 Prozent Zustimmung, die der Koalitionsvertrag bei einer Urwahl der SPD-Mitglieder erhielt: "Nach derartigen Abstimmungen halten sich die Genossen auch an das Ergebnis.“
Grüne sehen Koalition gescheitert
Die in Hessen wie im Bund oppositionellen Grünen gaben sich besorgt - und staatstragend. "Diese Regierung ist handwerklich gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hat", sagte die Landesvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Anna Lührmann. Nun sei es wichtig, dass das Land eine stabile Regierung bekomme.
Omid Nouripour, Bundestagsabgeordneter aus Frankfurt und Ex-Bundesparteivorsitzender, befand: "CDU und SPD haben jetzt natürlich ein großes Problem. Ich hoffe, dass sie es schnell in den Griff bekommen", sagte er. Das Land brauche eine in den aktuellen Krisen eine stabile Regierung.
Klar sei aber auch, dass die Grünen Merz in einem zweiten Wahlgang angesichts des schwarz-roten Koalitionsvertrags auch in einem erneuten Durchgang nicht wählen würden, sagte Nouripour. Dass CDU und SPD beim ersten Wahlgang Stimmen gefehlt hätten, sei "deren Problem".
"Ego-Trip"-Vorwurf und Häme
Seine Parteikollegin Angela Dorn schrieb auf dem Kurznachrichten-Dienst X: "Wer auch immer gerade auf seinem Egotrip in der Koalition ist, handelt unverantwortlich." Bis CDU-Ministerpräsident Boris Rhein im Januar 2024 nach der Landtagswahl die schwarz-grüne Koalition in Hessen zugunsten eines CDU/SPD-Bündnisses beendete, war Dorn Wissenschaftsministerin.
Als "Blamage" wertete FDP-Landtagsfraktionschef Stefan Naas die Berliner Vorgänge. Der gerade erst unterschriebene Koalitionsvertrag sei offenbar nichts wert. "Und der Leidtragende ist das Land, das auf den vollmundig versprochenen Politikwechsel wartet."
Dass der Unions-Kandidat scheiterte, sorgte bei manchem seiner Gegner für offene Häme. Der Frankfurter Linken-Politiker und Landesgeschäftsführer Michael Müller postete auf X lapidar: "#merz kann es nicht".
AfD: "Führungsversagen und Misstrauensvotum"
"Das ist mehr als ein Denkzettel, das ist ein Führungsversagen und ein Misstrauensvotum“ - so lautete die Reaktion von AfD-Landtagsfraktionschef Robert Lambrou. Nach seiner Sicht ist Merz‘ Scheitern der Beleg, dass sich die Union immer wieder an "ihrer eignen Brandmauer den Kopf einrennt".
Die CDU hatte eine Zusammenarbeit mit der Partei auch in Zukunft abgelehnt. Die AfD ist laut einer Neubewertung des Bundesverfassungsschutzes gesichert rechtsextrem. Sie klagt dagegen.
Wirtschaft beklagt "unverantwortliche Spielchen"
In der Wirtschaft löste die Wahlschlappe von Merz Unruhe aus. An der Frankfurter Börse rutschte der DAX ins Minus. Und die Vereinigung hessischen Unternehmerverbände reagierte mit "Sorge und Unverständnis", wie es in einer Mitteilung ihres Präsidenten Wolf Matthias Mang hieß.
Das Land stehe innen- und außenpolitisch vor gewaltigen Herausforderungen, schrieb Mang und fügte hinzu: "Der Wirtschaftsstandort Deutschland hat keine Zeit für Spielchen und unsere Partner in der Außenpolitik auch nicht." Es sei unverantwortlich, dass einige Abgeordnete der Koalition glaubten, in einer solchen Situation taktieren zu können.