Hessische Reaktionen zur Kanzlerwahl "Signal der Stabilität" oder "Blamage"?
Demonstrative Zuversicht, Kritik, böse Vorahnung: In der hessischen Landespolitik fallen die Reaktionen auf die Wahl von CDU-Bundeschef Friedrich Merz zum Kanzler höchst unterschiedlich aus. Ministerpräsident Rhein erwähnt den historischen Fehlschlag beim ersten Anlauf einfach gar nicht mehr.
Nach historisch schwerem Fehlstart sind Friedrich Merz und die neue schwarz-rote Koalition schließlich über die Ziellinie gekommen: Im zweiten Wahlgang erreichte der CDU-Bundesvorsitzende am Dienstagnachmittag im Bundestag in Berlin im eigenen Lager doch noch die nötige Mehrheit, um Kanzler zu werden.
Die Reaktionen in Hessen fallen je nach Partei unterschiedlich aus: Sie bewegen sich zwischen demonstrativem Optimismus, Erleichterung und bösen Vorahnungen darüber, wie es für die neue Bundesregierung und die Bürger wohl weitergehe.
CDU-Ministerpräsident Boris Rhein wählte in einer Mitteilung nach dem zweiten, erfolgreichen Anlauf seines Parteifreunds eine klare Marschroute im Umgang mit der Schlappe im ersten Durchgang: Er ignorierte sie.
Im Bund regiere nun wie in Hessen eine christliche soziale Koalition, ließ er verlauten. Merz stehe "für einen klaren Kurs, wirtschaftliche Vernunft und eine Renaissance der Realpolitik". Diese Eigenschaften benötige Deutschland dringend angesichts der vielen weltweiten Krisen und der gesellschaftlichen Herausforderungen im Land.
Fehlstart als gutes Omen?
Nach der anfänglichen Abstimmungsniederlage von Merz, die Rhein in Berlin im Bundestag mitverfolgte, hatte der Ministerpräsident noch appelliert: Die zweite Abstimmung müsse zum "Signal der Stabilität für unsere Demokratie" werden. Nun brauche es im Bundestag eine Kanzlermehrheit für den Politikwechsel, den die Menschen erwarteten. Die Mehrheit kam dann auch zustande.
"Lieber ein holpriger Start und dann gut regieren als andersherum", sagte CDU-Landtagsfraktionschefin Ines Claus im Interview mit hr INFO, als alles doch noch gut für Schwarz-Rot ausgegangen war. Sie sei immer zuversichtlich gewesen, dass es im zweiten Wahlgang funktioniere. Entscheidend sei, dass Merz nun Kanzler sei.
Die Menschen warteten in sehr instabilen Zeiten seit einem halben Jahr auf eine stabile Regierung, sagte die Unionspolitikerin. Das sei nun der Fall.
Auf offenkundig gewordene Unzufriedenheiten in beiden Regierungsfraktionen mit dem Koalitionsvertrag angesprochen erwiderte sie: "Jetzt kommt es darauf an, nicht zu streiten." Man müsse die Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt stellen. Die klare Mehrheit im zweiten Durchgang habe gezeigt, dass allen die große Verantwortung bewusst sei.
Historisch durchgefallen
Merz war als erster bundesdeutscher Kanzlerkandidat, der sich zur Abstimmung stellte, im ersten Wahlgang gescheitert. Der 69-Jährige erhielt zunächst in der geheimen Wahl sechs Stimmen zu wenig für die nötige Mehrheit. Insgesamt fehlten ihm 18 Stimmen aus dem Regierungslager.
Im zweiten Anlauf übertraf er die nötige Kanzlermehrheit von mehr als 316 Stimmen. Für ihn votierten 325 Abgeordnete, gegen ihn 289. Es gab eine Enthaltung. Die neue Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD verfügt über 328 Stimmen im Parlament.
SPD empfiehlt Hessen als Vorbild
Wie Ministerpräsident Rhein empfahl auch sein Vize-Regierungschef Kaweh Mansoori (SPD) die Arbeitsweise der CDU/SPD-Koalition in Hessen als Vorbild für die Bundespolitik. Sie sei geprägt von "konstruktivem Miteinander und verbindlichem Stil", auch wenn man sich nicht immer einig sei.
Da eine neue Regierung einen stabilen Start brauche und die Demokratie von außen und innen angegriffen werde, sei es gut, dass die Kanzlerwahl am Ende ein eindeutiges Ergebnis erbracht habe.
Grüne: Schon gescheitert
Den gescheiterten ersten Wahlgang hatten Oppositionspolitiker zuvor dagegen als schlechtes Zeichen mangelnder Stabilität gedeutet. "Diese Regierung ist handwerklich gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hat", sagte die Grünen-Landesvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Anna Lührmann.
Als "Blamage" wertete FDP-Landtagsfraktionschef Stefan Naas die Berliner Vorgänge. Der gerade erst unterschriebene Koalitionsvertrag sei offenbar nichts wert. "Und der Leidtragende ist das Land, das auf den vollmundig versprochenen Politikwechsel wartet."
"Das ist mehr als ein Denkzettel, das ist ein Führungsversagen und ein Misstrauensvotum“ - so lautete die Reaktion von AfD-Landtagsfraktionschef Robert Lambrou auf den anfänglichen Fehlschlag der Koalition im Bundestag.
Als "falsche Wahl“ bezeichnete später Linken-Landesvorsitzende Desiree Becker den neuen Kanzler. Merz spalte, statt zu einen. Die schwarz-rote Regierung werde den Sozialstaat demontieren, die Rechte von Frauen, Migranten und queeren Menschen einschränken und den "Schulterschluss mit Rechten zur Normalität machen", lautete ihre Prognose.
Wirtschaft: Schaden wiedergutmachen
Von der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU) hieß es: Wenn die Weichen auf Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit gestellt würden, könne der Tag zu einem Aufbruch werden.
VhU-Präsident Wolf Mang mahnte aber: "Der Schaden, der durch den ersten Wahlgang entstanden ist, muss nun Ansporn sein für Tempo, Leistung und geschlossenes Handeln."
Politikwissenschaftler: "Denkzettel" für Merz und Klingbeil
Der Frankfurter Politikwissenschaftler Thomas Biebricher bezeichnete in der hessenschau die fehlenden Stimmen für Merz im ersten Wahlgang als "symbolisch hoch bedeutsam". Er gehe davon aus, dass einzelne Abgeordnete mit ihrer Gegenstimme Merz oder auch SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil einen Denkzettel hätten verpassen wollen.
Dass der holprige Start für Merz das Ansehen Deutschlands im Ausland längerfristig beschädigt habe, denke er nicht, sagte Biebricher. Innerhalb der Fraktionen werde vorerst jedoch vermutlich Misstrauen herrschen.
"Man muss auch sehen, dass bald Sachabstimmungen anstehen, und da ist es wesentlich wichtiger, dass die Mehrheit steht", sagte Biebricher. Schließlich gebe es dann keine Möglichkeit für zweite Wahlgänge. "Das hat schon auch eine disziplinierende Wirkung", so die Einschätzung des Politikwissenschaftlers, der mit mehr Geschlossenheit in der Koalition bei diesen Abstimmungen rechnet.