Foto von Jörn Kracke

Wären sie eine eigene Partei, wäre sie die größte im Landtag: die der Nichtwähler. Rund jede oder jeder dritte Wahlberechtigte bleibt bei Landtagswahlen in Hessen der Stimmabgabe fern. Warum?

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Was Menschen dazu bringt, nicht zur Wahl zu gehen

Nahaufnahme einer Hand mit Stift beim Ausfüllen des Wahlzettels
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Ein Wahllokal hat Jörg Kracke aus Friedberg noch nie von innen gesehen. Er stellt unumwunden fest: "Seit ich 18 bin, habe ich an keiner Wahl teilgenommen, weder an einer Kommunal- noch an einer Landtags- oder Bundestagswahl."

Dabei ist Kracke bereits 62 Jahre alt. Als Nichtwähler ist er zwar fürwahr nicht allein. In den vergangenen Jahren ging regelmäßig rund ein Drittel der Wahlberechtigten bei Hessen-Wahlen nicht an die Wahlurne. Bei der Landtagswahl 2018 lag die Wahlbeteiligung bei 67,3 Prozent. Wären die Nichtwähler eine Partei, könnten sie die größte Fraktion im Landtag bilden.

Aber dass einer noch nie wählen gegangen ist, erscheint doch ungewöhnlich. Dabei ist Ingenieur Kracke durchaus an Politik interessiert, wie er selbst sagt.

Sich Enttäuschung ersparen

Er schaue Polittalkshows und kenne die wichtigen Parteien und Politiker, erzählt er. Er hat auch eine Meinung zu politischen Entscheidungen, zum Beispiel zum finanziellen Engagement Deutschlands im Ausland, seiner Meinung nach sinnlosen Ausgaben. Aber Jörg Kracke glaubt: "Wenn ich wählen würde, dann hätte das auch keinen Einfluss."

Ein Motiv Krackes: sich Enttäuschung ersparen, wenn am Ende doch eine andere Partei gewählt wird, als er gut fände. Dazu kommt: Politik ist komplex. Es falle ihm schwer zu beurteilen, welche Partei mit welcher Aussage Recht habe, sagt Kracke. Und die nötige Zeit und Muße, sich dann doch intensiver mit den Positionen der Parteien zu befassen, die habe er dann auch nicht.

Viele Nichtwähler sind politisch interessiert

Politisch interessiert und dennoch Nichtwähler? Was sich wie ein Widerspruch anhört, muss keiner sein - das zumindest ergab eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem vergangenen Jahr. Untersucht wurden Motive von Nichtwählern bei der Bundestagswahl 2021.

Demnach sind rund zwei Drittel der Nichtwählerinnen und Nichtwähler politisch interessiert. Die meisten Nichtwähler ließen nur ab und zu eine Wahl aus, so die Studie. Als dauerhafter Nichtwähler gehört Kracke dagegen laut Studie zu einer Minderheit.

Fehlendes Vertrauen

Bei einer hr-Straßenumfrage lassen sich schnell Nichtwählerinnen und Nichtwähler finden. Einige Passanten in der Frankfurter Innenstadt erzählen, sie hätten die Wahlen ab und zu mal vergessen, weil ein Urlaub oder etwas anderes anstand. Andere sagen, dass ihnen das Vertrauen in die Parteien fehle. "Ich habe den Eindruck, dass es ohnehin keinen Unterschied macht, ob man CDU, SPD oder eine andere Partei wählt", sagt beispielsweise ein junger Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte.

Für einen Großteil der Nichtwähler ist fehlendes Vertrauen ein entscheidender Grund - zu diesem Schluss kommt die repräsentative Studie der Konrad-Adenauer-Studie. Der Annahme "Parteien und Politiker machen, was sie wollen, weshalb es keinen Sinn macht zu wählen" stimmten in Bezug auf die Bundestagswahl 2021 demnach 65 Prozent der Befragten zu. Frauen (rund 70 Prozent) taten dies etwas häufiger als Männer (rund 60 Prozent).

Das Misstrauen ist offenbar in den vergangenen Jahren gewachsen: Als die Adenauer-Stiftung Nichtwählerinnen und Nichtwählern bezüglich der Bundestagswahlen 2009 und 2005 befragte, rangierte das Motiv auch schon auf Platz eins. Für die Wahl 2009 nannten es rund 57 Prozent der Befragten, für die Wahl 2005 waren es noch rund 50 Prozent.

Desinteresse der Gutsituierten

Jörg Kracke sagt, er habe grundsätzlich Vertrauen in Parteien und die Politik. Und wenn es hart auf hart käme, würde er vielleicht doch wählen gehen. Bislang habe er mit allen politischen Entscheidungen irgendwie umgehen können, sagt er.

Womöglich findet Kracke also, dass politische Entscheidungen für ihn einfach nicht so wichtig sind. Er sagt: "Ich bin Gott sei Dank in der guten Lage, dass ich mein Einkommen habe und meine Familie gut durchs Leben bringen kann. Und das führt natürlich dazu, dass man auch sagt: Okay, wenn ihr es denn so entscheidet, mich trifft es nicht so."

Damit dürfte der Ingenieur zur Gruppe gehören, die Politikwissenschaftler als Gutsituierte zusammenfassen, in deren Leben Politik kaum oder lediglich eine geringe Rolle spielt.

Bildungsgrad entscheidet auch über Wahlbeteiligung

Was den Politikprofessor Christian Stecker von der Technischen Universität Darmstadt mehr Sorgen macht, ist eine andere Gruppe von Nichtwählern: "Junge Menschen ohne Abitur gehen viel seltener zur Wahl, als sie das noch vor 20 Jahren getan haben." Bei den Erstwählerinnen und Erstwählern öffne sich bei der Wahlbeteiligung die Schere zunehmend - je nach Bildungsgrad.

Stecker sagt, daraus entstehe eine Art Teufelskreis: "Man beteiligt sich nicht, vielleicht aus seiner Wahrnehmung heraus, dass es auf die eigene Stimme und die eigenen Interessen nicht ankommt. Aber das führt dann im Endeffekt dazu, dass die Interessen gewisser Milieus noch weniger Gehör finden."

Erreichbar sein für die, die nicht erreicht werden wollen

Auch Politiker haben das Thema Nichtwähler und Unzufriedenheit mit der Demokratie erkannt. Die hessische Landtagspräsidentin Astrid Wallmann (CDU) und ihre Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Landtagen haben in diesem Sommer die "Westfälische Erklärung" unterschrieben. Darin heißt es: "Die Präsidentinnen und Präsidenten der Landesparlamente stimmen darin überein, dass dauerhaft niedrige Wahlbeteiligungen eine Gefahr für die Demokratie und eine Aufforderung für eine weitere Verstärkung der vitalen Vermittlungsarbeit der Parlamente sind."

Die Landtagspräsidenten haben sich eine bessere Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente vorgenommen und mehr Demokratiebildung, gerade um Menschen mit geringem Vertrauen in die Politik und Demokratie zu erreichen. Das dürfte nicht ganz einfach werden, wie sie in der "Westfälischen Erklärung" selbst einräumen.

Denn "diese demokratiekritischen Gruppen" seien mit gewöhnlicher Öffentlichkeitsarbeit und über journalistische Medien häufig nur schwer zu erreichen. "Oft gelingt es nur noch dem persönlichen Umfeld, Verschwörungsnarrativen zu begegnen", schreiben die Landtagspräsidenten. Letztlich müssten die Parlamente sicherstellen, "mit den verschiedenen Angeboten der Demokratiebildung auch für diejenigen erreichbar zu sein, die nicht danach streben, von diesem Angebot erreicht zu werden".

Mit Bürgerkonventen gegen Politikfrust?

Eine Möglichkeit, Menschen wieder für Politik und auch fürs Wählen zu begeistern, sieht der Darmstädter Politikwissenschaftler Stecker in Bürgerkonventen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden per Los ausgewählt, zum Beispiel sitzt dann eine Professorin mit einem Arbeitslosen und einem Polizisten an einem Tisch. Gemeinsam entwickeln sie Handlungsempfehlungen für die Politik. Andere Länder, darunter Irland, setzen darauf schon länger. In Deutschland gibt es einen Bürgerrat auf Bundesebene zum Thema Ernährung.

Stecker betont, dass es sich grundsätzlich lohne, wählen zu gehen: "Es gehört zu einer Demokratie dazu, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen." Eben dies geschehe durch die Wahl. "Und es lohnt sich auch, weil ich über meine Wahl auch beeinflussen kann, in welche Richtung Politik geht", sagt Stecker.   

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