Gegen den Fachkräftemangel Hessens Handwerk goes Social Media: Aus Followern Azubis machen
Immer mehr Handwerksbetriebe versuchen, Auszubildende und Kunden über Social Media zu gewinnen. TikTok und Instagram werden so zu wichtigen Werkzeugen gegen den Bewerbungsmangel – doch das bringt andere Herausforderungen mit sich.
"Denk dran, der hat noch sein Leben vor sich!", ruft Dachdeckergeselle Nicolai Ribel seinem Kollegen auf dem Flachdach zu. Dann packt Ausbildungsleiter Leonard Schultheis den Azubi von hinten und schwingt ihn wie einen Uhrzeiger im Kreis. Der Azubi landet sicher wieder seinen Füßen, die beiden schlagen sich in die Hände. "Wir haben unsere Azubis gern", steht unter dem Video.
Was nach einer Blödelei unter Kollegen aussieht, hat Strategie: Auf TikTok und Instagram postet der Dachdeckerbetrieb Schultheis seit geraumer Zeit drei Videos pro Woche, um junge Menschen zu erreichen - denn 2023 hatte das Unternehmen aus Bruchköbel (Main-Kinzig) noch Probleme, Fachkräfte zu finden.
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Nicht alle Mitarbeiter tun sich leicht
Fast 3.000 Follower hat der Betrieb auf Instagram, die erfolgreichsten Videos auf TikTok erreichen über 150.000 Views. Mal zeigen sie die Teammitglieder beim Kaffeetrinken über den Dächern der Stadt, während die Sonne aufgeht, mal erklärt ein Mitarbeiter, wofür man ein Hakenmesser benutzt. Viele Videos spielen mit Stereoptypen. In einem Video erzählt Schultheis zum Beispiel, warum Dachdecker heute nicht mehr "dumm, stark und wasserdicht" sein müssen.
Für Ausbildungsleiter Schultheis geht es dabei um mehr als Personalgewinnung: Er will zeigen, dass sein Beruf schön ist. "In der Schule oder auf dem akademischen Bildungsweg sagt dir keiner, dass das hier Spaß machen kann. Da heißt es immer nur, pass auf, dass du nicht auf dem Bau endest", sagt er. "Man kann hier viel lernen, auch fürs Leben", pflichtet ihm Nicolai bei.
Die beiden machen gerne Videos, werden inzwischen auf Fortbildungen sogar auf den Content angesprochen. Doch es fiel ihnen nicht von Anfang an leicht, im Rampenlicht zu stehen. "Vor der Kamera sprechen, ist nach wie vor unangenehm", sagt Schultheis. Ältere Gesellen wollten oft nicht gefilmt werden, "deswegen bleibt das an uns jüngeren Kollegen hängen", lacht der 29-Jährige.
"So nebenher" funktioniert nicht
Immer mehr Handwerksbetriebe in Hessen stellen sich der Herausforderung Social Media. Im hessischen Handwerk fehlen 17.500 Fachkräfte, schätzungsweise 1.400 Lehrstellen blieben 2024 unbesetzt.
Digitalberater Roman Freund von der Handwerkskammer Wiesbaden sagt: Während es früher oft darum ging, Kunden gezielter anzusprechen, kommen seit vier bis fünf Jahren mehr Betriebe zu ihm, weil ihnen die Mitarbeiter fehlen.
"Da ist Social Media dann der große Knackpunkt." Bei vielen Betrieben herrsche die Überzeugung, dass man Social Media "so nebenher" machen könne, schnell sei ein Profil erstellt – doch der erhoffte Erfolg bliebe ohne strategische, langfristige Bespielung aus. Das führe dann oft zu Frustration. Viele seien am Anfang nicht davon überzeugt, dem "neumodischen Krempel" Instagram und Tiktok wirklich eine Chance zu geben.
Social Media so wichtig wie der Firmenwagen
Ein Großteil seiner Arbeit sei es dann, den Kunden einen Impuls zu geben: "Social Media ist genauso wichtig, wie dass der Firmenwagen fährt", sagt er. Und auch da solle man ja auch, wenn man selbst nicht gerade Automechaniker ist, den Profi ranlassen. Er versuche dann, Optionen aufzuzeigen: Entweder, man investiere die Zeit selbst oder man gebe den Social-Media-Account in professionelle Hände.
Im Handwerk habe man derzeit jedenfalls noch einen großen Vorteil gegenüber Wettbewerbern, weil noch wenige Betriebe auf Social Media aktiv seien. Klar sei für ihn als Digitalberater aber auch: Nicht jeder Betrieb braucht einen Instagram-Kanal. Es komme darauf an, welche Ziele man verfolge – und ob man junge Menschen erreichen wolle.
Produktwerbung auf Social Media
Auch Ramausstatter Florian Kratz aus Lich (Gießen) war früh dabei. War 2021 noch die Gewinnung neuer Mitarbeiter das Ziel, spricht er heute auf Social Media gezielt Kunden an. Inzwischen generiere er 80 Prozent seines Umsatzes über Aufträge, die über Anzeigen auf Facebook und Instagram zu ihm kommen.
Seiner Meinung nach brauche es kein aufwendiges Kameraequipment, sondern Authentizität. Bei der Mitarbeitergewinnung zögen verschwitzte Selfie-Videos manchmal sehr gut. Er glaubt, dass er über Social Media Menschen unabhängig vom Alter erreichen könne. Über Facebook habe er schon Aufträge von über 80-jährigen Kunden bekommen.
Viele Handwerksbetriebe in der Umgebung seien auf seinen Erfolg aufmerksam geworden und deshalb auf ihn zugegangen. Wegen der großen Nachfrage hat Kratz dann eine kleine Firma gegründet, die die Social-Media-Kanäle anderer Betriebe betreut. Im vergangenen Jahr etwa hätten sie für eine Ausbildungsstelle Anzeigen auf Social Media geschaltet und fast 100 Bewerbungen bekommen, berichtet der Licher.
Über Direktnachrichten zum Bewerbungsgespräch
Auch der Dachdeckerbetrieb Schultheis hat seinen Social-Media-Auftritt von Anfang an in professionelle Hände gegeben. Die Handwerkerteams müssen nur zwei bis vier Stunden pro Monat vor die Kamera treten, um Kamera, Schnitt und Distribution kümmert sich die externe Agentur "Helden im Handwerk". Sie betreut Websites und Kanäle von über 50 Handwerksbetrieben im deutschsprachigen Raum, viele davon aus Hessen.
Der Social-Media-Auftritt kostet den Betrieb, inklusive Arbeitszeit der Mitarbeiter, monatlich einen vierstelligen Betrag. Über TikTok und Instagram kommen regelmäßig Direktnachrichten rein, das Unternehmen hat über diesen Weg schon zu Bewerbungsgesprächen eingeladen und Praktikanten eingestellt. Auch sechs Auszubildende haben seit 2023 auf diesem Weg ihre Berufung gefunden.
An Mitarbeitern mangelt es inzwischen also nicht mehr. Und Leonard Schultheis freut sich, dass die 15- bis 17-Jährigen im Bewerbungsgespräch oft schon einen viel konkreteren Eindruck von der Arbeit hätten - wenn nicht, empfehle er auch mal, ein paar Videos auf TikTok anzuschauen.