Kommission stellt Missbrauchsbericht vor Mindestens 120 Opfer von sexueller Gewalt im Bistum Fulda
Nach vier Jahren Aufklärung hat eine unabhängige Kommission ihren Bericht zu sexuellem Missbrauch im Bistum Fulda vorgestellt. Darin sind mehr als 230 Fälle aufgeführt. Die zentrale Aussage wirft ein schlechtes Licht auf die Kirche: "Man war blind für das Leid der Betroffenen."
Erstmals hat eine unabhängige Kommission das Ausmaß von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in den vergangenen Jahrzehnten im Bistum Fulda umfassend öffentlich gemacht. Demnach gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mindestens 120 Betroffene und 37 mutmaßliche Täter. Es waren meist Priester, die namentlich nicht genannt wurden.
Die Kommission geht davon aus, dass es mehr als 230 Fälle von sexuellem Missbrauch gab - und vermutlich eine hohe Dunkelziffer. Eine Aussage zur tatsächlichen Zahl der Missbrauchstaten sei nicht möglich, sagte Kommissionssprecher Gerhard Möller. "Die tatsächliche Gesamtzahl liegt deshalb sicher um ein Mehrfaches höher."
Die Zahlen gehen aus dem Abschlussbericht der Kommission zur Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe im Bistum hervor. Der mehr als 300 Seiten lange Bericht wurde am Dienstag in Fulda vorgestellt und an das Bistum übergeben.
"Man war blind für das Leid der Betroffenen"
Der Bericht geht von 239 strafbaren sexuellen Handlungen aus, fügt aber hinzu, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit mehr sein könnten, da viele Betroffene über einen längeren Zeitraum immer wieder missbraucht worden seien. Insgesamt habe es in nur 23 Fällen Strafanzeigen gegeben.
29 Fälle seien von der Kommission intensiver untersucht worden, weil sie als besonders "markant" auffielen. Daraus leitete die Kommission ab, dass die Kirche immer wieder bei der Aufklärung und dem Schutz Betroffener versagt habe: Bis 2010 sei das Leid der Opfer nicht beachtet worden. "Man war blind für das Leid der Betroffenen", heißt es in dem Bericht.
Nachsicht mit Tätern, Meiden von Betroffenen
Beschuldigte seien bis zur Jahrtausendwende mit Nachsicht behandelt worden, um das Ansehen der Kirche nicht zu beschädigen. Die Kommission stellte in ihrem Bericht auch fest, dass es das Muster gab, mutmaßlichen Tätern mehr zu glauben als den Betroffenen. Missbrauchsbetroffene seien gemieden worden, während sich Pfarrgemeinden hinter Beschuldigte gestellt hätten. Um Täter zu schützen, seien sie, wenn es "Probleme" gab, unauffällig in andere Gemeinden oder Einrichtungen versetzt worden.
Diese Haltung sei zu dieser Zeit auch bei verantwortlichen Bischöfen und den Personalverantwortlichen vorherrschend gewesen. "Gleichgültigkeit gegenüber Betroffenen, Vertuschung, Klerikalismus, Fehlverhalten der Personalverantwortlichen" - all das habe sich erst Ende der 1990er Jahre um die Jahrtausendwende geändert. Weg von dem, was der Bericht "Täterfürsorge" nennt, hin zu einem ersten Umdenken bei der Bischofskonferenz und den Bistums-Verantwortlichen.
Weihbischof Kapp und Bischof Bolte trugen lange Personalverantwortung
Der Bericht weist auch darauf hin, dass Weihbischof Johannes Kapp in der fraglichen Zeit, als Betroffene kaum Gehör fanden, für mehr als zwei Jahrzehnte die Personalverantwortung hatte: Von 1977 bis 2003. Kapp starb im Jahr 2018. Auch als Bischof Adolf Bolte (1901-1974) zwischen 1959 und 1974 personelle Verantwortung trug, sei es zu vielen Missbrauchsfällen gekommen.
Aber auch viele Kirchengemeinden schienen keinen Wert darauf zu legen, zur Aufklärung beizutragen. Denn an einer Fragebogen-Aktion beteiligten sich nur 19 von 152 adressierten Gemeinden. "Eine schmale Resonanz", lautete die Kritik der Kommission dazu.
In 37 Fällen wurde Leid anerkannt
Die Kommission untersuchte auch die Reaktion der Kirche auf die Missbrauchsfälle: In 37 Fällen habe es eine Anerkennung des Leids von Betroffenen durch die Kirche gegeben, insgesamt wurden 513.000 Euro gezahlt. Acht Personen sei durch die Kirche therapeutische Hilfe vermittelt und bezahlt worden. Es gab 13 kirchenrechtliche Verfahren.
Es müsse sich etwas ändern, fordert der Bericht: Es brauche unter anderem ein unabhängiges Nachfolge-Gremium zur dauerhaften Begleitung für Prävention und Intervention, eine Ombudsstelle, eine bessere Unterstützung für Betroffene, Schutzkonzepte und eine Optimierung der Kommunikation im Bistum.
Bischof Gerber: "Wir haben Schuld auf uns geladen"
Bischof Michael Gerber nahm am Dienstag den Bericht entgegen und zeigte sich erschüttert. Er entschuldigte sich bei den Betroffenen: "Wir haben als Bistum Fulda Schuld auf uns geladen", sagte er. Kirchliche Strukturen hätten versagt, es sei einseitig auf den Schutz der Institution geschaut worden.
Den Betroffenen versprach er, ihr Leid ernst zu nehmen und anzuerkennen. Er habe viele Gespräche mit Betroffenen geführt und werde das weiterhin tun. Es gehe für das Bistum nun darum, Konsequenzen aus dem Bericht zu ziehen: Dabei sei eine zentrale Frage, warum weggeschaut und vertuscht worden sei. Am 26. Juni will die Leitung des Bistums bei einer Pressekonferenz ausführlich Stellung beziehen.
Der Katholikenrat im Bistum Fulda nannte die Ergebnisse des Abschlussberichts "erschütternd". Die Vorsitzende Stefanie Klee sagte: "Die Verbrechen der Priester offenbaren eine Doppelmoral. Nächstenliebe zu predigen, in der Beichte Sünden loszusprechen und selbst unschuldige Menschen sexuell zu missbrauchen, ist einfach scheußlich." Der Katholikenrat ist ein gewähltes Laiengremium, das die katholischen Gläubigen im Bistum vertritt.
Bericht nach vier Jahren vorgelegt
Der Abschlussbericht wurde nun vier Jahre nach der Gründung der Kommission zur Aufklärung der Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs im Bistum Fulda vorgelegt. Die am Ende achtköpfige Kommission arbeitete laut Bistum vollständig unabhängig von der Diözesanleitung.
Die Kommission unter Vorsitz des Juristen und früheren Fuldaer Oberbürgermeisters Gerhard Möller orientierte sich nach Angaben des Bistums an bundesweit einheitlichen Standards. Diese wurden gemeinsam von der Deutschen Bischofskonferenz und der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs entwickelt.
Ex-Kriminalbeamte halfen beim Akten-Studium
Besetzt war die Kommission mit verschiedenen Fachleuten, unter anderem mehrere Juristen, eine Sozialpädagogin, eine Sozialarbeiterin, ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Betroffene aus dem gemeinsamen Betroffenenrat der Bistümer Fulda und Limburg.
Mit dabei waren auch fünf ehemalige Kriminalbeamte, die in Akten nach Hinweisen suchten. Sie seien extrem gut darin, aus den Puzzle-Teilen von Hinweisen ein Bild zusammenzufügen, hieß es. Dass frühere Kripo-Beamte einem Bistum bei Missbrauchsermittlungen mit ihrer Expertise helfen, sei ungewöhnlich und womöglich einmalig gewesen, sagte Möller bei einer Zwischenbilanz. Meistens seien für solche Aufgaben Anwaltskanzleien oder Universitäten beauftragt worden.
Schwierigkeiten beim Aktenstudium
Vor allem das Aktenstudium sei eine Mammut-Aufgabe, hieß es schon bei einer Zwischenbilanz der Kommission. Mehr als 2.000 Akten seien untersucht worden. Das Problem dabei: Die katholische Kirche sei nicht gerade ein leuchtendes Vorbild für eine nachvollziehbare Aktenführung nach modernem Standard gewesen, kritisierte die Kommission.
Vieles sei je nach Bischof unterschiedlich gehandhabt worden, sagte Kommissions-Mitglied Philipp Zmyj-Köbel. Bei der Auswertung half auch ein Historiker, der zum Beispiel die früher verwendete Sütterlinschrift lesen kann.
Bundesweiter Skandal vor 15 Jahren bekanntgeworden
Dass der Skandal um die Vertuschung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche öffentlich wurde, ist mittlerweile sogar 15 Jahre her. Seither laufen Versuche, das Geschehene und die dunklen Kapitel aufzuklären.
Im Jahr 2018 stieß die Katholische Kirche in Deutschland eine Untersuchung über den "Sexuellen Missbrauch an Minderjährigen" an. Forscher überprüften in diesem Zusammenhang rund 38.000 Personalakten von Klerikern aus den Jahren 1946 bis 2014.
Nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz von damals identifizierten sie 1.670 potenzielle Täter und 3.677 Kinder und Jugendliche, die von sexueller Gewalt betroffen waren. Betroffene kritisierten später: Die Aufklärung müsse aus Sicht vieler Betroffener als gescheitert angesehen werden.
Ex-Pfarrer muss vier Jahre ins Gefängnis
Zuletzt wurde im Oktober 2024 ein 43 Jahre alter ehemaliger Pfarrer aus Kalbach (Fulda) zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er zwischen September 2021 und Juli 2022 auf einer Chat-Plattform Kinder und Jugendliche kontaktierte.
Dort hatte er ihnen kinderpornografische Videos vorgespielt und sie aufgefordert, sich vor der Webcam auszuziehen und sexuelle Handlungen vorzunehmen. Davon fertigte er Aufnahmen an. Rund 70 Fälle waren angeklagt, die nicht identifizierten Opfer suchte er sich über das Internet auf der ganzen Welt.