Mann umringt von Menschen

Krankenhäuser, Klimawandel, Krieg: In Marburg hat Kanzler Scholz Bürgerinnen und Bürger zu einer Gesprächsrunde eingeladen. Das Publikum ist so bunt wie der Fragenkatalog, die Antworten sind wohlüberlegt. Ein Teilnehmer bittet Scholz: "Bleiben Sie zögerlich."

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Bundeskanzler Scholz besucht Marburg

hessenschau 19:30 Uhr (02.02.2023)
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Die Vertrauensfrage fällt schon in Minute 18. "Sie haben gesagt, wir liefern keine Panzer, jetzt werden doch Panzer geliefert", konfrontiert ein Besucher den Kanzler forsch. "Und dann haben sie gesagt, wir liefern keine Kampfflugzeuge – aber wie können wir darauf vertrauen, dass diese Eskalationsspirale nicht immer weitergeht?"

Eine gute Frage, findet Olaf Scholz (SPD). "Ich bin froh, dass Sie die stellen." Denn: So sei er das bisher noch nicht ein einziges Mal gefragt worden. "Und deshalb ist es ja gut, dass es solche Veranstaltungen gibt", sagt er. "Weil es hier ein bisschen anders zugeht, als wenn ich in Berlin im Fernsehen ein Interview gebe. Und jetzt kann ich Ihnen ja eine Antwort geben."

150 Teilnehmende wurden ausgelost

Hanseatisch wortkarg, pragmatisch clever, fast schon irritierend nüchtern – Bundeskanzler Scholz wird auf viele Arten und Weisen beschrieben, Bürgernähe und Charisma gehören meistens nicht dazu. "Der vielleicht langweiligste Typ in Deutschland", meinte sogar mal der ehemalige US-Botschafter John Kornblum über ihn.  

In Marburg muss Scholz nun allerdings einiges an Sozialkompetenz abrufen: Er hat zum Kanzlergespräch geladen. Nachdem Scholz an diesem Tag schon begleitet von verschiedenen Protestveranstaltungen das Marburger Produktionswerk des Pharmaunternehmens Biontech und das Kinder- und Jugendparlament besucht hat, dürfen nun 150 Menschen an einer offenen Gesprächsrunde teilnehmen. Sie hatten sich dafür vorher beworben – und wurden per Losverfahren ausgewählt.

"Kreuz und quer über alle Themen"

So wie explizit vom Kanzler gewünscht, geht es "kreuz und quer über alle Themen": Die Marburger konfrontieren den Bundeskanzler mit einem bunten Strauß an Problemfeldern. Es geht von Klimaschutz und Tempolimit über Erzieherinnenmangel und Psychotherapieplätze bis hin zu Baupreisen und Digitalisierung.

Das Publikum ist so bunt wie der Fragenkatalog: Es sitzen dort Rentner und Studierende, ein Unternehmer, ein Soldat, eine Krankenschwester. Manche berichten von eigener Betroffenheit oder Sorgen, andere haben ausführlich vorformulierte Zettel voller Argumente mitgebracht.

Scholz über Gesundheitssystem: "Ich gehe ja auch zum Arzt"

Scholz äußert immer wieder Verständnis für die Nöte der Menschen, ein bisschen was davon hat er schließlich auch schon selbst erlebt – er gehe ja beispielsweise auch ganz normal zum Facharzt, sagt er, als es ums Gesundheitssystem geht. Gelassen ackert sich Scholz durch die Themen, gewohnt sachlich, häufig sogar recht detailliert.

Mann umringt von Menschen

Hin und wieder hält er beim Antworten inne und dann scheint es, als lege sein Gehirn eine Art Rechenpause ein, damit die Fakten auch ja alle korrekt sind. Manches umschifft der Kanzler so gekonnt, wie das wohl nur Politiker beherrschen. Hätte jemand mitgezählt, wie oft er an diesem Abend sagt: "Wir haben schon dafür gesorgt, dass…" – die Liste wäre vermutlich lang gewesen.

Viele Fragen zum Krieg

Die meisten Fragen fallen aber zu einem Thema: dem Krieg in der Ukraine, der viele im Raum umtreibt. "Ich habe Angst, dass Putin Deutschland angreift", sagt eine Frau. Ein anderer Besucher will wissen, ob Scholz nicht mit den Panzerlieferungen die Büchse der Pandora geöffnet habe. "Könnten nun durch Druck der Rüstungsindustrie nicht schon bald auch andere Länder Rechtsansprüche auf Panzer anmelden?", fragt er.

"Humbug", meint Scholz dazu klipp und klar, in diesem Moment mehr Jurist als Bundeskanzler. "Ein Anspruch auf Panzerlieferungen lässt sich niemals aus irgendeiner rechtlichen Struktur dieses Staates ableiten."

Scholz: NATO-Osterweiterung kein Grund für Angriffskrieg

Als ein Mann die NATO-Osterweiterung in den Raum wirft, wird "der Scholzomat" für seine Verhältnisse sogar fast temperamentvoll: Die Osterweiterung sei kein begründeter Anlass für einen Angriffskrieg Russlands, meint er, sondern lediglich vorgeschoben.

Zu dem Mann mit dem Einwand sagt Scholz überdeutlich: "Ich hoffe, das werden Sie jeden Tag einmal sagen: Dieser Krieg ist unberechtigt, furchtbar, mörderisch und imperialistisch – und er ist von Russland begonnen worden."

Aus der Sicht der osteuropäischen Länder sei die NATO-Osterweiterung zudem damals der richtige Schritt gewesen, sagt Scholz. Die NATO sei ein Defensivbündnis, vor dem Russland sich nicht fürchten müsse. "Niemand will in der Ukraine Raketen in Richtung Moskau aufstellen." Er habe noch vor Kriegsbeginn zu Putin gesagt, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine in den nächsten 30 bis 40 Jahren nicht auf der Tagesordnung stehe.

Bitte an Scholz: "Bleiben Sie zögerlich"

Auch jetzt suche er weiterhin nach einer diplomatischen Lösung, er telefoniere immer noch hin und wieder mit Putin. "Es braucht ein Friedensbündnis", meint Scholz. Allerdings dürfe das kein ungerechter Diktatfrieden Russlands sein.

Als es um Vertrauen und Waffenlieferungen geht, sagt Scholz zwar nichts Neues, aber nimmt sich Zeit, sich zu erklären. Er spricht von ausführlichem Abwägen, von bewussten Entscheidungen und von konsequenten Schritten – immer mit dem Ziel, weitere Eskalationen zu vermeiden. Dass sein Handeln auch immer wieder als "zögerlich" bezeichnet wird, findet eine Besucherin sogar ausdrücklich gut. "Fahren Sie diesen Kurs so weiter", bittet sie ihn.

Studentin übergibt Resolution

Nach 90 Minuten und knapp 20 Fragen schwirrt allen den Kopf, trotzdem werden weiter Hände gereckt. Die Marburger Studentin Leonie Schmid hatte sich eigentlich vorgenommen, den Kanzler zum Thema soziale Ungerechtigkeit und den Problemen für Studierende befragen. Sie kommt aber nicht mehr dran, wie viele andere auch.

Trotzdem ist der Abend noch nicht ganz vorbei. Es gibt noch für alle 150 Besucher Selfies mit dem Kanzler. Auch Leonie Schmid darf eins machen – und nutzt die Chance: Sie übergibt ihm eine Forderungsliste des Marburger Studierendenauschusses, extra geschrieben für seinen Besuch.

Mann und junge Frau
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