Ausstellung in früherem Notaufnahmelager Erste Gedenkstätte zur DDR-Flucht in Gießen eröffnet

Im früheren Notaufnahmelager Gießen ist ein bundesweit einzigartiger Erinnerungsort entstanden: Eine neue Ausstellung zur DDR-Flucht macht den historischen Ort erstmals dauerhaft zugänglich.

Ein bunt bemalter Trabi vor einer Reihe Ausstellungswände
Ein mit Motiven aus der Ost-West-Geschichte künstlerisch gestalteter Trabi ist Teil der Ausstellung Bild © Rebekka Dieckmann

Dass Gießen keine Schönheit ist, ist in der Stadt weitgehend Konsens. Trotzdem ist Gießen seit Jahrzehnten auch eins: ein Sehnsuchtsort. Teilweise sogar so sehr, dass hier in den Straßen schon Menschen Schlange standen, um endlich ein Leben in Freiheit und Sicherheit beginnen zu können.

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Deutsche Fluchterfahrung – ehemaliges DDR-Aufnahmelager in Gießen

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Bild © hessenschau.de
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Bis heute befindet sich in der Stadt der wichtigste Ankunftsort für Geflüchtete in Hessen. Die heutige Hessische Erstaufnahmeeinrichtung am Stadtrand geht zurück auf ein Notaufnahmelager in der Nähe des Bahnhofs, eingerichtet im Nachkriegschaos vor rund 80 Jahren.

historisches Bild von Menschenschlange
Im Jahr 1989 wurde das Lager vollkommen überrannt Bild © dpa/picture alliance Eilmes

Aufgrund Gießens günstiger Lage entstand hier ein zentrales Notlager für Vertriebene, später für Aussiedler aus dem Osten und dann vor allem für DDR-Flüchtlinge. Jeder vierte, der aus der DDR in den Westen kam, verbrachte seine ersten Tage hier. Noch bis 2016 wurden im Meisenbornweg Asylsuchende untergebracht.

Zentraler Gedenkort für deutsch-deutsche Geschichte

Der Gebäudekomplex wurde nun zu einem sogenannten Lern- und Erinnerungsort umgestaltet. Zurück geht das auf eine Initiative der hessischen Landesregierung, federführend bei der Umsetzung war die Landeszentrale für politische Bildung.

Unter anderem der frühere Bundespräsident Joachim Gauck war am Dienstagabend bei der Eröffnung dabei. Heute sei vielen dieser Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte gar nicht mehr präsent, sagte Gauck mit Blick auf das Gießener Lager.

Die Gedenkstätte solle dazu beitragen, dieses Kapitel für die kommenden Generationen zu bewahren. "Es erinnert an Flucht, Vertreibung, Neuanfang - als deutsche Geschichte, aber auch als Menschheitsgeschichte", so Gauck.

Ex-Bundespräsident Gauck in der Ausstellungshalle in Gießen neben einem Trabbi
Ex-Bundespräsident Joachim Gauck war bei der Eröffnung in Gießen dabei - im Hintergrund: Ex-Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) Bild © picture alliance/dpa | Christian Lademann

Laut Florian Greiner, Historiker und Geschäftsführer der neuen Einrichtung, ist es ein zentraler Ort für die deutsch-deutsche Geschichte sowie der einzige Gedenkort dieser Art für DDR-Geschichte in einem westdeutschen Bundesland.

Mann vor einer Reihe Ausstellungswände
Historiker Florian Greiner hat mit vielen Zeitzeugen gesprochen Bild © Rebekka Dieckmann

In den Räumen befindet sich nun eine Ausstellungsfläche mit multimedial präsentierten Exponaten und Platz für Wechselausstellungen. Zudem wurden ein Café, Projekträume und ein Filmstudio eingerichtet, in dem Zeitzeugen ihre Erlebnisse schildern können. Teilweise wurden Gebäudeelemente historisch rekonstruiert, etwa die Pforte.

Programme für Schulklassen

Rund sieben Millionen Euro investierte das Land, es ist die erste landeseigene Gedenkstätte Hessens. Historiker Greiner sagt: "Wir wollen zeigen, dass dieser Ort überregional, deutschlandweit relevant ist." Wichtig sei gewesen, die lange Geschichte des Lagers darzustellen. Der Schwerpunkt liege dabei auf der DDR-Geschichte.

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Besondere Zielgruppe sollen Schulkassen sein, für die es spezielle Besuchsprogramme gibt. "Die Erfahrung zeigt: Man kann eigentlich nicht früh genug anfangen mit dem Thema", meint Greiner. "Über Freiheit kann man auch schon mit Grundschulkindern sprechen."

Ein Leben im Lager

Frau vor einer Reihe Ausstellungswände
Ursula Kirschner ist im Lager aufgewachsen - ihr Vater arbeitete hier Bild © Marc Klug

Zeitzeugin Ursula Kirschner hat einen Großteil ihres Lebens in diesen Räumen verbracht. Sie wurde vor 75 Jahren im Lager geboren. Nachdem ihre Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg in Gießen ankamen, blieben sie einfach hier - Ursulas Vater, Oskar Brauner, fing als Mitarbeiter im Lager an.

Mit handwerklichen Tätigkeiten und in der Verwaltung prägte er die Einrichtung bis zu seiner Rente im Jahr 1986 wie wohl kaum ein anderer.

"Wenn es irgendwas zu reparieren gab, ist mein Vater aufs Dach – wenn es gebrannt hat, wurde er gerufen." In der Ausstellung kommt Kirschners Vater an verschiedenen Stellen vor, unter anderem im Weihnachtsmannkostüm.

Zwischen Granaten und Bollerwagen

Der Lern- und Erinnerungsort folgt verschiedenen Erzählsträngen. Zum einen der Geschichte und Entwicklung des Lagers selbst, das mehrere Umbauphasen und Flüchtlingswellen erlebte. Einige Spuren der internationalen Bewohner an den Wänden wurden extra beibehalten.

Zum anderen beschreibt die Ausstellung Leben und Alltag der Menschen hier und die Welten, aus denen sie kamen. Gezeigt werden Exponate wie eine Reisetruhe, eine mitgebrachte Puppe oder ein Bollerwagen, auf dem die Ankommenden ihre Habseligkeiten vom Bahnhof herbrachten.

Auch Mauerreste, Stacheldraht und Minen von der innerdeutschen Grenze werden ausgestellt - und zeigen, was einige auf dem Weg hierher überwinden mussten.

Geheimes Büro für Befragungen

Wohl weniger bekannt: Neben einer eigenen Kneipe und einer Krankenstation waren im Lager auch bundesdeutsche und amerikanische Geheimdienste präsent. In der Gießener Innenstadt gab es zeitweise sogar ein geheimes Büro für Befragungen.

Ein bunt bemalter Trabi vor einer Reihe Ausstellungswände
Die Einrichtung richtet sich besonders an Schulklassen Bild © Rebekka Dieckmann

Dass aggressive Geheimdienstmethoden dabei allerdings auch als durchaus unangenehm empfunden wurden, wird ebenfalls thematisiert: "Der Skandal von Gießen", hieß es etwa in Zeitungsberichten aus dem Jahr 1973.

"Wir wollen hier keine glatte Erfolgsgeschichte zeigen", erklärt Florian Greiner. Wichtig sei den Ausstellungsmachern auch gewesen, die Schwierigkeiten zu zeigen, die nach der Ankunft auf Menschen warteten. Es sei nicht alles so golden gewesen, wie manche sich vielleicht erhofft hatten.

Feindobjekt Gießen

Gießen war zudem nicht nur Sehnsuchtsort, sondern zeitweise auch erklärtes Feindobjekt. Die Ausstellung zeigt: Die Stasi war hochinteressiert an den Zuständen und Personalien im Lager.

Gebäude mit Autos von oben
Die Gebäude wurden in den 1960ern neu gebaut, vorher standen hier Holzbaracken Bild © Stadtarchiv Gießen

Auch Spitzel gab es hier. Ein Ehepaar - selbst aus der DDR geflohen war und anschließend im Lager angestellt - berichtete bei Heimatbesuchen regelmäßig an die Stasi. Detaillierte Skizzen zeigen, dass man in der DDR sogar wusste, wie die Menschen aussahen, die im Gießener Lager arbeiteten.

"Wege in die Freiheit"

Vor allem eins steht bei all dem aber im Zentrum: Die persönlichen Geschichten und Schicksale von Menschen, die hier ankamen und auch digital auf rund 50 Bildschirmen zu sehen sind.

Etwa von der jungen Studentin Kerstin Beck, die 1984 als Austauschschülerin in Afghanistan mit einem Pferd über die Grenze nach Pakistan floh und schließlich nach Gießen gelangte.

Oder von Erdmuthe Kowaleski, die es 1961 als "Petra aus Kiel" kurz nach dem Berliner Mauerbau als unbegleitete Jugendliche mit einem gefälschten Ausweis über die Grenze schaffte. Gießen wurde für viele das "Tor zur Freiheit".

"Wer es nicht erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen"

Auch Hermann Frankfurths Geschichte ist dabei. Er kam 1989, kurz vor dem Mauerfall, mit seiner Familie hier an. Da war noch nicht abzusehen, dass im Laufe jenes Jahres mehr als 100.000 Menschen aus der DDR in Gießen ankommen würden. Nie war das Lager voller.

Ein Foto in der Ausstellung zeigt Frankfurth und seine Familie mit Gepäck. Vorausgegangen war eine nervenaufreibende Zeit voller Misstrauen, Bespitzelung und Zukunftsangst. Als Christ und engagiertes Kirchenmitglied hatte Frankfurth für sich und seine Familie keine Perspektive in der DDR mehr gesehen.

"Wer es nicht erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen, was es heißt, in einer Diktatur zu leben", sagt Frankfurth im Gespräch mit dem hr. "Junge Menschen sollen wissen, wie wichtig es ist, in einer Demokratie zu leben."

Weitere Informationen

Erinnerungsort Notaufnahmelager Gießen

Adresse: Meisenbornweg 1, 35394 Gießen
Eröffnung: 18. Juni 2025
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag: 10 bis 17 Uhr
Der Eintritt ist frei.
Gruppenführungen und Schulprogramme nach Anmeldung möglich.
www.notaufnahmelager-giessen.de

Ende der weiteren Informationen
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de/Marc Klug