Ankunft 1976 im Notaufnahmelager Gießen Ex-Eintracht-Star Nachtweih: "Unsere DDR-Flucht verlief wie im Krimi"
Norbert Nachtweih hat Großes vollbracht: viermal Deutscher Meister mit Bayern München, DFB- und Uefa-Pokalsieger mit Eintracht Frankfurt. Der größte Schritt war jedoch seine DDR-Flucht. Die verlief wie im Krimi.
Die Fußballvereine, für die Norbert Nachtweih in seiner Kindheit und als junger Erwachsener gegen den Ball trat, hatten Beinamen wie "Motor", "Traktor", "Kombinat" oder "Chemie". Klar also, wo der spätere Star von Eintracht Frankfurt und Bayern München mit dem Fußballspielen begann: in der DDR. Doch als 19-Jähriger reichte es Nachtweih irgendwann mit "Traktor" und "Kombinat", er wollte als herausragender Fußballer endlich richtig Geld verdienen: im Westen.
Die Gelegenheit zur Flucht ergab sich im Herbst 1976, als Nachtweih mit seiner U21-Nationalelf der DDR zum Länderspiel in die Türkei flog. "Nach dem Spiel saßen wir zusammen in der ersten Etage in unserem Hotel und mein Mannschaftskollege Jürgen Pahl unterhielt sich lange mit einem Mann an der Bar", erinnert sich Nachtweih im hr1-Interview. Ein Gespräch mit Folgen: Der Mann an der Bar war laut Nachtweih ein US-amerikanischer Reiseleiter und verhalf den beiden Fußballern letztlich zur Flucht.
Irgendwann tief in der Nacht verabredeten sich Nachtweih und Pahl mit dem US-Bürger auf dessen Zimmer. "Im Nachhinein war das grob fahrlässig, das hätte auch eine Falle der Stasi sein können." Doch alles ging gut. Am Tag darauf trafen sich alle in Istanbul in einem Hotel, der US-Bürger brachte Nachtweih und Pahl schließlich zum US-Konsulat, danach ging es zum deutschen Konsulat. "Alles war wie im Krimi", so Nachtweih. Die Entscheidung, zu fliehen, war absolut spontan. "Wir hatten das wirklich nicht vor."
Zigaretten-Rauch, Verhöre und die Fahrt aufs Rollfeld
Was in den folgenden zehn Tagen in Istanbul passierte, erinnert an einen Agenten-Film. "Wir wurden mehrfach verhört - wie im Film mit einer grellen Schreibtischlampe. Der Verhör-Beamte hat so viel geraucht, dass man da in dem Raum gar nichts mehr gesehen hat", erinnert sich Nachtweih. Am Ende ging es für Nachtweih und Pahl in getrennten Autos auf das Rollfeld des Flughafens direkt an den Flieger, schnell in die Maschine und ab in die Bundesrepublik. "Ich glaube, die waren ziemlich froh, als wir weg waren."
Angekommen im Westen gab es weitere Verhöre, zunächst in München durch den bundesdeutschen Verfassungsschutz, dann nach einer Zugfahrt auch im damaligen Notaufnahmelager in Gießen. Nachtweih hat daran keine guten Erinnerungen. "Klar waren wir froh, dass wir eine Bleibe hatten, doch das war alles ziemlich traurig da. Wir wurden von den Bediensteten immer wieder gefragt, was wir hier überhaupt wollen im Westen." Von Empathie keine Spur, erinnert sich der Fußballer.
Vom Notaufnahmelager in Gießen zu Eintracht Frankfurt
Doch die beiden DDR-Fußballer Pahl und Nachtweih blieben nicht lange in Gießen. Schon nach drei Tagen wurden sie von Mitarbeitern von Eintracht Frankfurt zum Probetraining abgeholt. Der Frankfurter Bundesligist interessierte sich brennend für die beiden DDR-Auswahlspieler. Schon bald danach wurden Nachtweih und Pahl als neue Spieler der Eintracht präsentiert - ausgestattet mit dem ersten West-Gehalt.
Es gab nur ein Problem: Sie durften vorerst nicht Fußball spielen. Auf Antrag der DDR belegte der Weltfußballverband FIFA die beiden Spieler 1977 mit einer Sperre von gut einem Jahr. So machte Nachtweih sein erstes Profi-Spiel für die Eintracht erst im März 1978, beim 2:0-Sieg gegen den VfB Stuttgart. Die Karriere von Nachtweih begann, der Blondschopf gewann 1980 (zusammen mit Torwart Jürgen Pahl) mit der Eintracht den Uefa-Pokal, 1981 den DFB-Pokal.
Viermal Deutscher Meister
Nach dem Wechsel zu Bayern München wurde der ehemalige DDR-Spieler ganze viermal Deutscher Meister. Eine große Karriere in der bundesdeutschen Nationalelf blieb Nachtweih jedoch verwehrt. Da er bereits für die U21-Elf der DDR gespielt hatte, durfte er - laut FIFA-Regularien - nicht mehr für das Team mit dem Bundesadler auflaufen. Dem Fußball ist er auch nach seiner aktiven Karriere bis heute treu geblieben. Seit 2005 arbeitet Nachtweih als Trainer bei der Fußballschule von Eintracht Frankfurt.
Zum Notaufnahmelager in Gießen kehrte er nur einmal vor gute zwei Jahren für Filmaufnahmen zurück. "Da kamen die ganzen Gefühle wieder hoch. Es hatte sich nichts verändert, alles war noch so wie vor fast 50 Jahren, als ich da ankam."
Lern- und Erinnerungszentrum in Gießen
Den Lern- und Erinnerungsort Notaufnahmelager Gießen, welcher am Dienstagabend von Hessens Bildungsminister Armin Schwarz (CDU) und dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck eröffnen wurde, wird Nachtweih nicht besuchen. Für den 68-Jährigen ist das Kapitel endgültig abgeschlossen.