Ankläger und Angeklagte beim Beginn des Auschwitz-Prozesses im Frankfurter Römer, im Hintergrund eine schematische Darstellung des Vernichtungslagers der Nazis

Am 20. Dezember 1963 stellte der deutsche Staat im Frankfurter Römer zum ersten Mal NS-Verbrecher vor Gericht. Wichtig war der Strafprozess vor allem wegen seiner gesellschaftlichen Wirkung für die Bundesrepublik.

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Vor 60 Jahren – Auschwitz-Prozesse in Frankfurt

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Es war einer der größten Prozesse der Nachkriegszeit und das bis dahin wichtigste Verfahren gegen die Nazi-Verbrechen in Deutschland. Der erste Auschwitz-Prozess begann fast 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und kurz vor Weihnachten 1963. 22 Täter waren damals angeklagt, mehr als 350 Zeugen wurden angehört.

Dokumente der Täter

Dass es überhaupt zum Prozess kam in einer Zeit, in der die meisten Deutschen die dunkle Vergangenheit verdrängen wollten und lieber die Wirtschaftswunderjahre genossen, ist dem hartnäckigen Einsatz des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer zu verdanken.

Ihm war es ein persönliches Anliegen, die Verbrechen der Nationalsozialisten aufzuarbeiten: Bauer war 1933 einige Monate lang selbst in KZ-Lagerhaft.

Der frühere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer sitzt an seinem Schreibtisch und blickt in die Kamera

Die Täter vor Gericht zu bekommen, gelang dank Dokumenten der SS. Darin notiert waren die Namen von Gefangenen, die angeblich auf der Flucht erschossen worden waren, und die Namen der Täter. 

Verbrechen noch wenig bekannt

In diesen Dokumenten, die Fritz Bauer zugespielt bekam, sei der Umfang der Verbrechen nicht annähernd ersichtlich gewesen, sagt Katharina Stengel. Sie hat unter anderem zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess geforscht und arbeitet für das Fritz Bauer Institut. Vielmehr habe der Inhalt der Dokumente dafür gesprochen, wie wenig zum damaligen Zeitpunkt über die Verbrechen bekannt gewesen sei, sagt Stengel.

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Auschwitz

Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz im heutigen Polen ermordeten die Nationalsozialisten mindestens 1,1 Millionen Menschen, meist jüdische Häftlinge. Sie starben in den Gaskammern in Auschwitz-Birkenau oder an den Folgen von Zwangsarbeit, Hunger, Krankheiten und Misshandlungen.

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Die Ermittlungen zu dem Prozess dauerten fünf Jahre, die Anklage gegen die 22 Männer umfasste exakt 700 Seiten. Bis dahin hatten alle Beschuldigten unauffällig in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft gelebt, wie Werner Renz in seinem Buch "Auschwitz vor Gericht" belegte.

So war zum Beispiel Robert Mulka, der Stellvertreter von Auschwitz-Lagerkommandant Rudolf Höß, nach dem Zweiten Weltkrieg fast nahtlos zurück in ein bürgerliches Leben geschlüpft. Kurze Zeit saß er in Haft, dann galt der ehemalige SS-Hauptsturmführer als entnazifiziert.

Bereits 1948 arbeitete Mulka als selbstständiger Kaufmann in Hamburg und kam zu Wohlstand. "Er fürchtete ebenso wie die anderen Angeklagten im späteren Auschwitz-Prozess wohl keine Konsequenzen mehr", berichtet die Direktorin des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt, Sybille Steinbacher. Doch über 18 Jahre nach dem Kriegsende holte Mulka seine Vergangenheit ein.

Hermann Langbein, Auschwitz-Überlebender, auf einem Foto, das ihn als Gefangenen zeigt

Um den Prozess in die Wege zu leiten, brauchte Fritz Bauer neben den belastenden Dokumenten vor allem Zeugen. Einer, der das KZ Auschwitz als politischer Gefangener überlebt hatte, war Hermann Langbein.

Der spätere Generalsekretär des Auschwitz-Komitees konnte Überlebende davon überzeugen, dass sie in Frankfurt aussagten. Das war wichtig für den Prozess, wie Katharina Stengel erklärt.

Überlebende und internationale Presse in Frankfurt

Die ganze Welt schaute auf den ersten Auschwitz-Prozess. Zuschauer und Reporter internationaler Zeitungen reisten nach Frankfurt. Erstmals sagten Überlebende des NS-Vernichtungslagers als Zeugen aus. Viele von ihnen kamen aus dem Ausland und betraten zum ersten Mal wieder deutschen Boden.

Zur beklemmenden Stimmung des Prozesses trug bei, dass sein Beginn in eine festlich-besinnliche Zeit fiel. Im Frankfurter Römer wurde über millionenfachen Mord verhandelt - draußen auf dem Römerberg herrschte zwischen geschmückten Buden Weihnachtstreiben, es duftete nach Glühwein und Spekulatius.

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Für die meisten Überlebenden sei es eine ungeheure Überwindung gewesen anzureisen, berichtet Katharina Stengel vom Fritz Bauer Institut. Man könne Briefen von Überlebenden entnehmen, dass sie sich fragten, ob sie ein Messer mitbringen oder sich verteidigen müssten und ob die SS noch aktiv sei in Deutschland.

"Kein menschliches Wort"

Angeklagte und Zeugen begegneten sich in Frankfurt nicht nur während des Prozesses vor Gericht, sondern mitunter auch beim Frühstück im Hotel, wie Gerhard Wiese berichtet: "Wer nicht in Haft war, konnte sich in Frankfurt frei bewegen." Wiese war einer der Ankläger beim Auschwitz-Prozess und ist heute 95 Jahre alt. Für die Zeugen sei diese Konfrontation sehr schwierig gewesen, manche seien während ihrer Aussagen in Tränen ausgebrochen.

In der deutschen Bevölkerung stießen die Verhandlungen auf großes Interesse. "Während der 183 Prozesstage kamen über 20.000 Besucher. Es wurde in den Zeitungen groß berichtet", sagt Fritz-Bauer-Institutsdirektorin Steinbacher. Das Gericht verhandelte über Massenmorde, Folter, brutalste Gewaltexzesse. Die mutmaßlichen Täter ließ ihre eigene Vergangenheit kalt, wie es schien. 

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Tonbandaufnahmen vom Prozess

Während des Prozesses waren Bildaufnahmen nicht erlaubt, die Aussagen wurden auf Tonband aufgezeichnet. Seit 2017 gehören die Tonbänder zum Unesco-Weltdokumentenerbe.
Die zirka zwölf Meter an Prozess-Akten und 103 Tonbänder liegen im Staatsarchiv Wiesbaden. Die über 400 Stunden an Zeugenaussagen wurden digitalisiert und sind online für jeden und jede zugänglich.

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Dass sie in Auschwitz gewesen waren, konnte keiner der Angeklagten bestreiten. Doch eine Verantwortung oder gar Schuld stritten sie ab. Sie hätten nur Befehle befolgt, sagten die Angeklagten wieder und wieder. Generalstaatsanwalt Bauer sagte nach dem Prozess in einer Diskussionsrunde, während der Verhandlung sei "kein menschliches Wort" der Angeklagten gefallen.

Verhältnismäßig geringe Strafen

Ein Problem der Ankläger bei dem Prozess war das bis in die 2010er Jahre gültige Rechtsprinzip, dass dem Angeklagten eine konkrete Tat nachgewiesen werden muss. Für eine Verurteilung wenigstens wegen Beihilfe reichte es zu Zeiten der Auschwitz-Prozesse nicht, wenn ein Angeklagter Teil der Tötungsmaschinerie gewesen war.

Und so wurden zum Abschluss des ersten Auschwitz-Prozesses im August 1965 sogar drei Freisprüche verkündet. Nur sechs der Angeklagten wurden wegen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Der stellvertretende Lagerkommandant Mulka erhielt eine mehrjährige Haftstrafe wegen Beihilfe.

Große Wirkung

Für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist die Bedeutung des Prozesses dennoch kaum zu überschätzen. Er sei nicht nur der bis dahin größte und längste Mordprozess in der deutschen Rechtsgeschichte gewesen, erklärt Sybille Steinbacher: "Er gab den entscheidenden Anstoß für die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Zeit."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezeichnete den damaligen Chefankläger Fritz Bauer vor einigen Jahren als eine "Schlüsselfigur der jungen Bundesrepublik". Mit dem Auschwitz-Prozess habe er "eine Wegmarke gesetzt" und damit die Rückkehr Deutschlands in die Weltgemeinschaft mit ermöglicht.

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