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OB plant Vertreterbegehren zu "MoVe 35"

Blick auf die Oberstadt in Marburg mit Radfahrer

Politisches Beben in Marburg: Nachdem der Bürgerentscheid zum Verkehrskonzept "MoVe 35" gescheitert ist, will Oberbürgermeister Spies die Bürger trotzdem darüber abstimmen lassen - und greift ausgerechnet einen Vorschlag der Opposition auf.

Es war ein Paukenschlag, der die Marburger Stadtpolitik aufgewirbelt hat: Am Freitag schlug Oberbürgermeister Thomas Spies vor, zum Verkehrskonzept "MoVe 35" ein Vertreterbegehren einzuleiten, um die Bürgerinnen und Bürger im kommenden Jahr darüber entscheiden zu lassen. Er tat es just in der Stadtverordnetenversammlung, die zuvor die Unzulässigkeit eines Bürgerbegehrens zum selben Thema aufgrund von Formfehlern bestätigt hatte.

Die Stadt könne 8.000 Unterschriften aus der Stadtgesellschaft nicht unbeantwortet lassen, sagte Spies zur Begründung. "Wir haben mehrere Monate einer sehr aufgeheizten Debatte hinter uns", ergänzte er im Gespräch mit dem hr. "Die Debatte hat die Stadtgesellschaft durcheinander gebracht, die Leute streiten sich beim Grillen im Garten über 'MoVe 35'." Das könne so nicht bleiben, am Ende müsse die Stadt zusammenhalten. Seine bisherigen Versuche, "die Kontrahenten zusammenzurufen", seien nicht erfolgreich gewesen.

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Bürger- und Vertreterbegehren

Mit einem Bürgerbegehren können die Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde einen Bürgerentscheid beantragen. Seit dem 1. Januar 2016 kann auch die Gemeindevertretung beschließen, einen Bürgerentscheid durchzuführen. Das war vorher auf die Frage nach der Fusion zweier oder mehr Gemeinden beschränkt. Diesem Beschluss müssen mindestens zwei Drittel der gesetzlichen Zahl der Mitglieder der Gemeindevertretung zustimmen.

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Klar sei, dass das Bürgerbegehren unzulässig sei, weil die Fragestellung unzulässig formuliert gewesen sei. Das führe aber bei den Menschen zu einer großen Enttäuschung, sagte Spies. Er wolle die Diskussion, bei der es nicht einmal mehr um Inhalte gegangen sei, schlicht befrieden. Er habe die Entscheidung kurzfristig getroffen, gibt er zu.

Grüne: "Vorschlag kam überraschend"

Das sehen auch die Parteien der grün-rot-grünen Marburger Regierungskoalition so, die der OB mit der Ankündigung kalt erwischt hat. "Der Vorschlag des Oberbürgermeisters kam überraschend", schreiben die Grünen am Dienstag auf Anfrage. "Dies ist nicht der vertrauensvolle Umgang, den wir uns von Koalitionspartner:innen wünschen." Dies werde die Partei in der kommenden Koalitionsrunde thematisieren.

Auch der Vorschlag selbst müsse noch besprochen werden. "MoVe 35 ist ein Rahmenkonzept mit 77 Einzelmaßnahmen für Marburg und all seine Stadtteile." Ob eine Abstimmung darüber im Rahmen eines Vertreterbegehrens gelinge oder andere Beteiligungsformen geeigneter wären, wolle die Partei in der Koalition diskutieren. Das Thema müsse ziel- und lösungsorientiert im Dialog behandelt werden. Vertreter der Klimaliste wollten sich am Dienstag noch nicht äußern. Es müsse sich erst intern besprochen werden, hieß es auf Nachfrage.

SPD: Vorschlag ist ausgestreckte Hand

Selbst die Mitglieder der SPD-Fraktion seien vom Timing des OBs überrascht gewesen, berichtet deren Vorsitzender Steffen Rink. In einer Fraktionssitzung am Montagabend seien die Mitglieder aber einig gewesen, dass die öffentliche Diskussion zu dem Thema derzeit in einer Sackgasse stecke und der Vorschlag des OBs ein Weg sei, die Stadtgesellschaft zu befrieden.

Spies' Vorschlag sei auch eine ausgestreckte Hand in Richtung Opposition, betont Rink, kritisiert die gemeinsame Fraktion von CDU, FDP und Bürgern für Marburg aber gleichzeitig scharf. Die Opposition habe "in Marburg und auch in Social Media ganz üble, teils verunglimpfende Diskurse geführt und sich völlig unnachgiebig gezeigt." In dieser Gegnerschaft gehe es nicht weiter.

Opposition: Stehen für Gespräche bereit

Die Opposition war es letztendlich, die das Bürgerbegehren auf den Weg gebracht hatte. Sie teilte am Dienstag schriftlich mit, dass sie nun auf Gespräche mit allen Fraktionen hoffe. Gleichzeitig will sie trotzdem das Verwaltungsgericht Gießen anrufen, um per einstweiliger Verfügung die Herausgabe eines externen Rechtsgutachtens zu erwirken. Dieses war die Basis, auf der das Bürgerbegehren für unzulässig erklärt worden war.

Eine Klage gegen die Ablehnung des Bürgerentscheids selbst behalte man sich vor. "MoVe 35" in seiner jetzigen Form müsse zudem eingefroren werden.

Die Opposition erinnerte daran, dass sie im Juni zunächst ebenfalls den Vorschlag eines Vertreterbegehrens in die Stadtverordnetenversammlung eingebracht habe, der damals von der Regierungskoalition und der Linken abgelehnt worden sei. Nichtsdestotrotz stehe sie für Gespräche bereit.

Formulierungsvorschlag noch vor Weihnachten

Diese dürften nicht einfach werden: "Wir verstehen überhaupt nicht, wie man meint, einen gemeinsamen Weg finden zu können und gleichzeitig weiter macht wie bisher", fragt sich SPD-Fraktionschef Rink. Mit ihrer Klage bleibe die Opposition "in einer Konfrontationsstellung". Auch dass die CDU nun zunächst Bedingungen stelle, entziehe vertrauensvollen Gesprächen eigentlich die Grundlage.

Rink schlägt vor, erst einmal abzuwarten. Noch vor Weihnachten will Spies eine erste "rechtssichere Formulierung" vorlegen, wie dieser dem hr bestätigte. "Dann ist klar, woran man sich abarbeiten kann", sagt Rink.

Hintergrund: Mehrjähriger Beteiligungsprozess

Vor drei Jahren hatte die Stadt beschlossen, ein umfassendes Mobilitäts- und Verkehrskonzept für das Jahr 2035 erstellen zu lassen, inklusive einer breiten Bürgerbeteiligung. Rund 3.500 Menschen füllten Online-Fragebögen aus, eine 40-köpfige Arbeitsgruppe aus Interessensvertretern und zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern begleitete den Prozess. Das Ziel: Den Autoverkehr in der Stadt bis 2035 zu halbieren.

Im Juli wurde "MoVe 35" schließlich von der Stadtkoalition beschlossen. Das stieß auf Widerstand bei der Opposition, aber auch beim Einzelhandel, was in einem Bürgerbegehren endete. Dieses hatte zwar genug gültige Unterschriften zusammenbekommen. Doch eine juristische Prüfung hatte ergeben, dass die Fragestellung rechtlich unzulässig war.

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