Künstler und Helfer verweben 18 Kilometer Faden Dieses Kunstwerk gibt es nur in Frankfurt
Freiwillige aus Hessen haben zusammen mit einem japanischen Künstler in der Frankfurter Allerheiligen-Kirche ein riesiges Netz gewebt - ein weltweit einzigartiges Kunstwerk. Zum Start der Musikbiennale cresc wird es mit Licht und Musik bespielt. Ein Erlebnis für alle Sinne.
Claudia Wendland hat keine Ahnung, wie viele Kilometer des weißen Polyesterfadens schon durch ihre Finger geglitten sind. Die 70-Jährige ist so begeistert von dem, was hier in der Kirche Allerheiligen entsteht, dass sie gleich an mehreren Tagen aus Kronberg im Taunus nach Frankfurt gefahren ist, um mit einer Freundin am Kunstwerk mitzuweben. Jeden Tag von 10 bis 17 Uhr. Inzwischen spürt sie vor allem ihre Knie und die Beine.
Zusammen mit anderen Freiwilligen - und dem aus dem japanischen Nagano angereisten Künstler Yasuhiro Chida - arbeitet Claudia Wendland an einer Netzskulptur, die aus ungefähr 16 bis 18 Kilometer Polyesterfaden besteht.
"Sie müssen sich strecken, denn man soll nicht in einer Ebene arbeiten, sondern dreidimensional", erklärt sie. "Also rein, raus, hoch und wieder runter." Sie müsse schauen, dass sie keinen 90-Grad-Winkel erzeuge, sagt sie, dadurch entstünden dann "diese ganz wirren Diagonalen."
Der Faden, erklärt Claudia Wendland, werde dabei immer um einen anderen, schon bestehenden Faden der Skulptur herum gezogen und dann in eine andere Richtung zum nächsten Faden verwoben. "Bis es immer enger wird. Wie so ein Spinnennetz", lacht sie.
Und wenn was reißt?
Diese Technik, erzählt Yasuhiro Chida, habe er extra für seine Installationen entwickelt. Das Entscheidende sei: Es werden keine Knoten gemacht. Das bringt allerdings auch ein Risiko mit sich: "Wenn da irgendwo jemand dazwischen kommt und der Faden reißt, dann geht das alles auseinander", erklärt Claudia Wendland und wirft die Arme in die Luft.
Der Künstler selbst ist zuversichtlich, dass die Gruppe es schafft, das große Netz in der geplanten Zeit bis zur Eröffnung fertig zu stellen. Allerdings hat auch er ein bisschen Angst, dass ausgerechnet ein tragender Faden reißt, wie er sagt: "Dann fällt alles runter, alle Fäden, die damit verbunden sind. Das kann uns mehr als drei bis vier Stunden kosten, um alles wieder zu reparieren."
Damit sich ein Riss nicht schlimm auswirkt, gibt es eben doch ein paar Knoten zur Sicherheit - an den Boden-Verankerungen der Fadenskulptur.
Kunstwerke spinnen rund um die Welt
Schon mehr als 20 solcher "Netzwerke" hat Yasuhiro Chida mit Helfern und Helferinnen auf der ganzen Welt gewoben. Etwa in seiner Heimat Japan, in den Niederlanden mitten im Wald und am römischen Aquädukt Pont du Gard in Südfrankreich.
Die Serie heißt "Analemma". Jede gewebte Skulptur ist einzigartig, auf den Ort und seine speziellen Bedingungen angepasst. Dieses hier in der KunstKulturKirche Allerheiligen am Frankfurter Zoo zählt zu den größten, die der japanische Künstler bisher gemacht hat.
Muskelkater, hochkonzentrierte Atmosphäre
Eine Hand voll Helfer und Helferinnen stehen auf Leitern oder hantieren schon mal mit langen Malerstangen, an denen die Fadenspule aufgesteckt ist.
Claudia Wendland genießt, trotz allen Muskelkaters, die hochkonzentrierte Atmosphäre. Es habe fast etwas Meditatives. "Es herrscht hier eine Ruhe", schwärmt sie. "Klar, zwischendurch erzählen wir was, aber meistens ist jeder ganz konzentriert an seiner Arbeit." Und wann, fügt sie lächelnd an, habe man schon mal die Möglichkeit mit so einem renommierten Künstler zu arbeiten?
Wie ein Feuerwerk
Claudia Wendland beschreibt sich als grundsätzlich neugierig. Sie mache immer wieder bei Laien-Projekten mit, etwa an der Frankfurter Oper. Aber das, was hier gerade entsteht, und wozu sie maßgeblich beiträgt, ist auch für sie neu und spannend: "Ich finde das faszinierend! Wenn der Beamer an ist und dieses Licht in einer Affengeschwindigkeit durch das Netz gejagt wird. Dann ist das ein ganzes Feuerwerk."
Das Feuerwerk entsteht, weil nur die Bereiche der Fäden aufleuchten, die vom Projektorlicht getroffen werden. Diese genau definierten Lichtpunkte, ihre Farbe, Helligkeit und Dauer ist mit der eigens dafür komponierten Musik verkoppelt. Erst all das zusammen ergibt das eigentliche Kunstwerk, die Licht- und Rauminstallation "Analemma".
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Blitzende Stromkabel als Inspiration
Die Idee für diese Arbeit kam Yasuhiro Chida, als er eines Abends mit dem Auto unterwegs war. In Japan sind die Stromleitung überirdisch angebracht und verlaufen oft entlang der Straßen. "Als die Sonne untergeht, sehe ich plötzlich, dass die Stromkabel im Licht schillern", erinnert er sich. "Wie in der Luft schwebende Blitze. Es war wunderschön. Da wusste ich, damit möchte ich arbeiten."
Nach genau demselben Prinzip - Licht trifft in einem bestimmten Winkel auf langes Kabel oder eine. Schnur - funktionieren seine Fadeninstallationen mit dem Titel "Analemma".
Was heißt eigentlich "Analemma"?
Der Name spielt vordergründig auf ein Sonnen-Phänomen an, soll den Betrachtenden aber vor allem Distanz ermöglichen. Ihnen nicht schon im Titel vorgeben, was sie Konkretes in der Installation aus Netz, Licht und Raum zu erkennen haben. Denn der japanische Künstler möchte den Besucherinnen und Besuchern den Raum für Ideen und Erfahrungen mit seiner Kunst möglichst offenhalten, wie er sagt.
"Ich möchte schöne Dinge erschaffen, die den gesamten Menschen berühren. Und ihm eine besondere Erfahrung ermöglichen", erklärt er. "Darum mache ich solche umfassenden Raum-Installationen." Und er macht damit auch noch etwas anderes spürbar, etwas, das für Menschen eigentlich unsichtbar ist: Den Raum, in dem sie sich bewegen, in seiner ganzen Tiefe und Dimensionalität.
"Ich kann das Werk nur jedem empfehlen", sagt Claudia Wendland euphorisch. Ihren Kindern habe sie schon jede Menge Fotos und Videos geschickt. Für sie ist klar: An einem der wenigen Tage, an denen die multimediale Fadeninstallation in Frankfurt zu sehen ist, wird sie auch wieder hier in der Allerheiligen-Kirche sein. Aber dann ohne eine Fadenspule in der Hand.
Sendung: hr2-kultur, 16.02.2024, 7.11 Uhr
Redaktion: Sonja Fouraté