Der Ostwald ist Teil eines Waldprojekts der Stadt Darmstadt.

Das gesamte Ökosystem im Blick: Für sein "zukunftsweisendes Konzept" ist der Darmstädter Stadtwald vom Naturschutzbund ausgezeichnet worden. Mit einer "naturnahen Waldentwicklung" soll dort dem Klimawandel begegnet werden.

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NABU zeichnet Darmstadt mit der Waldmedaille aus

Anke Bosch, Leiterin des Grünflächenamts Darmstadt, mit der NABU-Waldmedaille
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Die Entspannung setzt sofort ein. Das Licht bricht sich im grünen Blätterdach, es duftet leicht modrig nach Erde und Natur. Die Temperatur sinkt mit jedem weiteren Schritt ins Waldinnere, begleitet wird der Spaziergang vom Rascheln der Blätter und Zwitschern der Vögel. Der Darmstädter Ostwald ist ein Ort zum Wohlfühlen, zum Entspannen und Runterkommen. Ein beliebtes Erholungsziel für gestresste Städter.

Doch er ist noch mehr als nur das. Der Ostwald ist, wie der gesamte Darmstädter Stadtwald, Teil eines zukunftsweisenden und jetzt auch prämierten Projekts. In einem eigens erarbeiteten "Leitbild Wald" hat sich die Stadt verpflichtet, das Ökosystem Wald in ihrem Zuständigkeitsbereich zu schützen und fit für die Zukunft zu machen. Dafür wurde Darmstadt am Dienstag vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) mit der Waldmedaille 2023 ausgezeichnet.

"Musterbeispiel" Darmstadt"

"Mit seinem zukunftsweisenden Konzept wird Darmstadt zum Musterbeispiel für naturnahe Waldentwicklung", begründete NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger die Auszeichnung. Darmstadt könne "zur Blaupause für viele weitere Städte und Gemeinde" werden. Seit 2015 zeichnet der NABU verschiedene Akteurinnen und Akteure mit der Waldmedaille aus, die sich für eine nachhaltige Waldbewirtschaftung einsetzen.

Doch was macht das Darmstädter Modell nun so "zukunftsweisend" und nachhaltig, wie alle betonen? "Wir betrachten nicht mehr den Zustand einzelner Baum- oder Tierarten, sondern haben das komplette Ökosystem im Blick", sagt Christian Storm, Biologe von der TU Darmstadt, die das Projekt wissenschaftlich begleitet und auswertet.

Mit "wir" meint Storm nicht nur die Stadtpolitik oder sich und seine wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen. Denn im Jahr 2019 rief die Stadt einen Runden Tisch zum Thema Wald ins Leben, an dem weit über 30 Personen aus Wissenschaft, Naturschutzverbänden, Politik, Verwaltung und auch aus der Bürgerschaft besagtes Leitbild für den rund 2.000 Hektar großen Darmstädter Stadtwald erarbeiteten.

Ein Jahr später wurde der Bericht mit großer Mehrheit vom Magistrat angenommen. Umweltdezernent Michael Kolmer (Grüne) spricht gerne von einer richtigen "Waldfamilie", die in Darmstadt entstanden sei.

Grundsatz: Der Wald heilt sich selbst

Der Wald leide unter dem Klimawandel. Er werde immer wärmer, der Waldboden immer trockener, warnt Kolmer. Deswegen habe die Stadt beschlossen, zu handeln.

Neben der Erfassung des Waldzustands wurden im Leitbild Perspektiven, Prioritäten und Ziele erarbeitet. Biologe Storm nennt es etwas sperrig ein "ganzheitliches Waldökosystem-Management". Kurz und knapp lässt sich das komplexe Leitbild auf zwei einfache Formeln reduzieren. Erstens: Der Wald wird sich selbst überlassen. Zweitens: Der Wald dient nicht mehr zur Holgewinnung.

Erste Erfolge sichtbar

Im Ostwald sind bereits deutliche Spuren der neuen Herangehensweise sichtbar. Hier liegen kreuz und quer Äste und umgestürzte Bäume auf dem Boden. Aber das ist eines der Geheimnisse des Erfolgs im Stadtwald. "Normalerweise wäre das Totholz komplett aus dem Wald entfernt worden", sagt Biologe Storm. Doch jetzt bleibt es liegen. Ein wichtiger Faktor auf dem Weg zu einem funktionierenden Ökosystem Wald, wie Storm betont: "Von dem Totholz profitiert eine ganze Vielfalt von Organismen."

In Baumstümpfen finden sich Spechtlöcher, unter der Rinde umgefallener Bäume kreucht und fleucht allerlei Wunderliches aus der Insektenwelt. "Auf Totholz wachsen auch Pilze, Pilze lockt wiederum andere Pflanzen und Tiere an", führt Storm aus: "Ich sage immer: Im toten Holz, da floriert das Leben!"

Totholz lebt: Auf einem umgestürzten Baum im Darmstädter Ostwald wachsen Pilze, darunter krabbeln diverse Insekten.

Grundsätzlich basiert das gesamte Leitbild der Stadt auf dem Vertrauen in die Kraft des Waldes, sich selbst zu heilen. Der Mensch soll sich möglichst raushalten. Es wird auch nicht aufgeforstet, damit der Wald sich selbst verjüngen kann.

Tatsächlich wachsen an vielen Stellen im Ostwald bereits Sprösslinge, die sich selbst ausgesät haben. "Hier haben wir eine Rotbuche, hier eine Esche, hier sogar eine junge Eiche. Das ist quasi die Nachfolgerin der alten Eichen, die hier abgestorben sind", erklärt Storm beim Rundgang durch den Wald.

Die nachwachsenden Bäume werden in vielen Jahren dafür sorgen, dass das Blätterdach dicht bleibt oder noch dichter wird. Das wiederum sorgt für ausreichend Schatten, sodass der Waldboden nicht übernmäßig austrocknet.

Die natürliche Verjüngung ist auch eine Folge dessen, dass sich der Mensch dezent zurückhält. "In dem Moment, wo hier alte Bäume zusammengebrochen sind, schafft der Wald eine Lichtlücke. Das Licht wiederum stimuliert an diesen Stellen die Verjüngung, die ganz aus eigener Kraft des Waldes kommt." Nur dort, wo die Verkehrssicherheit auf den Wegen gefährdet ist, greift der Mensch noch ein. Aber auch dort würden Bäume nicht mehr komplett entfernt, sondern so viel Stamm wie möglich erhalten.

Abgesägter Baumstamm im Darmstädter Ostwald

Wichtiger Beitrag für besseres Stadtklima

Der Mensch, in diesem Fall repräsentiert durch die Stadt Darmstadt, handelt allerdings nicht ganz selbstlos, denn ein intakter Wald nutzt nicht nur der Tier- und Pflanzenwelt. "Er ist unsere grüne Lunge", sagt Umweltdezernent Kolmer. Der Stadtwald trage maßgeblich dazu bei, im urbanen Umfeld die Auswirkungen des Klimawandels abzumildern und das Stadtklima zu verbessern. Damit er das auch in Zukunft noch kann, müsse man ihn schützen, so Kolmer.

Sich rauszuhalten, hört sich laut Kolmer einfacher an, als es ist. "Dem Wald Ruhe zu geben, macht mehr Mühe als man denkt", sagte er bei der Preisverleihung. Es koste viel Kraft, das Leitbild immer wieder zu erklären. Viele Menschen verstünden nicht, warum die Stadt den Wald scheinbar verkommen lässt.

Zudem befinde sich der Westwald in einem deutlich schlechteren Zustand als der Ostwald, sodass dort wohl doch einige regulierende Eingriffe erfolgen müssten. Diese bedürften allerdings einer exakten Planung, sonst mache der Mensch am Ende mehr kaputt als ganz.

Kolmer fordert Geduld

Umso mehr freut sich Kolmer über die Auszeichnung: "Die Waldmedaille ist nicht nur Bestätigung für unsere Arbeit, sondern auch gute Werbung in der Öffentlichkeit für unser Leitbild."

Das Wichtigste - und das sei meist schwieriger als alle Überzeugungsarbeit - sei aber Geduld, betont Kolmer. "Der Wald braucht viel Zeit. Mehr Zeit, als Legislaturperioden lang sind." Deshalb appelliert er an mögliche Nachfolger und auch an die nächsten Generationen: "Geben wir ihm diese Zeit."

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