Der Angeklagte im Ayleen-Prozess in Gießen verdeckt sein Gesicht mit einem Aktenordner.

Unter großem öffentlichen Interesse hat in Gießen der Prozess um den gewaltsamen Tod der 14-jährigen Ayleen aus Baden-Württemberg begonnen. Der Angeklagte gestand die Tat, bestritt aber den Mordvorwurf. Vielmehr beschrieb er sich selbst als Opfer.

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Prozess im Fall Ayleen gestartet

hs
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Im Gericht wächst am Dienstagmorgen die Anspannung, je näher der Stundenzeiger der neun rückt. Reporterinnen und Kameraleute drängen sich in den Schwurgerichtssaal des Gießener Landgerichts, der Zuschauerraum ist voll besetzt. Wer ist dieser Mann, der gleich hineingeführt wird? Wird er sich äußern und irgendwie das zu erklären versuchen, was eigentlich unerklärlich ist?

Vor dem Gießener Landgericht steht an diesem Tag Jan P. aus Waldsolms (Lahn-Dill). Er soll laut Anklage vor knapp einem Jahr die 14-Jährige Ayleen aus Baden-Württemberg verschleppt, durch halb Deutschland gefahren und in Mittelhessen ermordet haben - beim Versuch, sie im Wald zu vergewaltigen.

So übergroß die Vorwürfe auch sind, Jan P. selbst ist auf den ersten Blick wenig eindrucksvoll: ein eher kleiner Mann, leicht untersetzt. Er wirkt etwas verloren und jünger als die 30 Jahre, die er alt ist, trotz des Vollbarts, den er inzwischen trägt. Es mag an seiner unreinen Haut liegen, den unfrisierten Haaren, dem viel zu großen, knitterigen T-Shirt.

Kurzer Prozessauftakt

Es ist ein kurzer Prozessauftakt, gerade mal eine halbe Stunde dauert er. Die Anklageschrift wird verlesen. Die Staatsanwaltschaft wirft Jan P. vor, die Schülerin Ayleen in der Nacht auf den 21. Juli 2022 ermordet zu haben. Ihre Leiche wurde am 29. Juli aus dem Teufelsee zwischen Echzell und Reichelsheim (Wetterau) geborgen.

In der Anklageschrift heißt es: Über Monate hinweg habe P. mit Ayleen Chatnachrichten und Fotos mit stark sexuellen Inhalten ausgetauscht. Anschließend habe er das Mädchen mit Morddrohungen gegen Familienmitglieder und der Ankündigung, Nacktfotos von ihr zu veröffentlichen, dazu genötigt, sich mit ihm zu treffen. Er habe gedroht, einen "Henker" zu schicken, heißt es.

Opfer zum Mitfahren genötigt

Mit einem geliehenen Auto sei P., der eigentlich keinen Führerschein hat, dann schließlich von Waldsolms bis in den Schwarzwald gefahren, in Ayleens Heimatdorf Gottenheim. Er habe sie unter Druck gesetzt, in sein Auto zu steigen, sonst wollte er die Nacktfotos ihrem Vater zeigen, so die Anklage.

Danach sei der Angeklagte mit ihr in ein über 300 Kilometer entferntes Waldstück bei Langgöns-Cleeberg (Gießen) gefahren, wo es auf einer Parkbank zu der versuchten Vergewaltigung gekommen sei. Dann habe er Ayleen erwürgt.

Ob das aus sexuellen Motiven geschah oder ob P. damit die einzige Zeugin seiner Tat zum Schweigen bringen wollte, ließ die Staatsanwaltschaft offen.

Die Anklage wirft P. zudem vor, in einem weiteren Fall ein 13-jähriges Mädchen über Chats kontaktiert und dazu gebracht zu haben, ihm Nacktfotos von sich zu schicken. Ihm sei dabei bewusst gewesen, dass es sich um eine Minderjährige handelt.

Angeklagter gibt Tötung zu, aber bestreitet Entführung

Bis zuletzt war offen geblieben, ob P. sich zum Prozessauftakt zu den Vorwürfen äußern würde. Schließlich lässt der Angeklagte von einem seiner Verteidiger eine Erklärung vorlesen. Darin räumt er ein, Ayleen getötet zu haben. Allerdings stellt er die Tatabläufe vollkommen anders dar als die Staatsanwaltschaft.

P. meint: Ayleen sei freiwillig mit ihm mitgefahren. Sie hätten sich "lange und intensiv unterhalten", sie habe seine Nähe gesucht und sich im Auto an seinen Arm gekuschelt. Schließlich sei es aber zum Streit gekommen, so der Angeklagte. Ayleen habe ihn beleidigt und provoziert.

Ab dann findet er nur noch wenige Worte. "Wir haben gestritten, dann habe ich sie getötet." Wie genau es aus seiner Sicht dazu kam, erläutert er nicht. Auf den Vorwurf der versuchten Vergewaltigung geht er nicht ein.

Die Staatsanwaltschaft weist später darauf hin: P.s Darstellung stimme in keinster Weise mit den Ermittlungsergebnissen überein.

Angeklagter beschreibt Missbrauch in seiner Kindheit

In seiner Stellungnahme zeichnet P. zudem ein detaillierteres Bild von sich, seiner Kindheit und Jugend. Es ist die Biografie eines Kindes, das bereits früh Schlimmes erlebt, am Rand der Gesellschaft steht und sich im Laufe der Jahre immer mehr zu einem Außenseiter mit kriminellen Neigungen entwickelt: einem jungen Mann ohne Schulabschluss, Ausbildung und Führerschein, der sich selbst als Opfer sieht und keine Perspektiven für die Zukunft hat.

P. beschreibt, dass er als Kind jahrelang von Bekannten seiner Mutter missbraucht worden sei. Dann habe er einige Zeit im Heim und in einer Pflegefamilie verbracht. 2007 habe er dann "Scheiße gebaut", wie er es nennt. Damit deutet er an, dass er mit 14 Jahren wegen eines versuchten Sexualdelikts an einer Elfjährigen verurteilt wurde.

Zehn Jahre verbrachte P. daraufhin in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen. Seitdem wurde er immer wieder mit kleineren Delikten straffällig. "Teilweise blieb mir nichts anderes übrig außer Diebstähle und andere Sachen zu machen", so P., "und es war mir dann auch egal, ob es Straftaten waren oder nicht."

Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt.

Was genau in dieser Nacht passierte, wird im Laufe des Verfahrens noch weiter beleuchtet werden. 15 Verhandlungstage sind bisher angesetzt, ein Urteil ist frühestens im September zu erwarten. Am Mittwoch geht es weiter mit Zeugenaussagen von Ermittlern.

Auch Ayleens Mutter soll im weiteren Prozess aussagen. Sie war die letzte, die mit Ayleen im Kontakt stand. Die Eltern treten zudem als Nebenkläger auf. Am Prozessauftakt nahmen sie allerdings nicht teil.

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