Jan steht mit verschränkten Armen in einer Landschaft und lächelt in die Kamera.

Erst seit zwei Jahren gibt es das Wahlrecht für alle. Zuvor waren beeinträchtigte Menschen mit Vollbetreuung von Deutschlands wichtigster Wahl ausgeschlossen. In diesem Jahr dürfen Zehntausende erstmals von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen - so wie Jan aus Hessen.

Jan Bernhard ist 24 Jahre alt, in Hessen geboren und dennoch darf er erst in diesem Jahr zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl wählen. Dass er vor vier Jahren trotz Volljährigkeit seine Stimme nicht abgeben durfte, lag daran, dass er das Down-Syndrom hat und deswegen in allen Angelegenheiten rechtlich betreut wird.

Wahlrecht für alle erst seit 2019

Tatsächlich waren beeinträchtigte Menschen mit Vollbetreuung bislang von Bundestagswahlen ausgeschlossen, in Deutschland betrifft das rund 85.000 Menschen. Erst 2019 - 70 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes - machte der Bundestag nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts den Weg frei für ein Wahlrecht für alle.

Zitat
„Das Wesen der Betreuung besteht darin, dass für eine volljährige Person ein Betreuer bestellt wird, der in einem genau festgelegten Umfang für sie handelt. Das Selbstbestimmungsrecht des betroffenen Menschen soll dabei gewahrt bleiben, soweit dies möglich und seinem Wohl zuträglich ist.“ Bundesamt für Justiz Bundesamt für Justiz
Zitat Ende

Bis dahin wurde davon ausgegangen, dass Menschen, die unter Vormundschaft stehen, nicht selbstbestimmt an einer Wahl teilnehmen können. Ein solch pauschales Urteil könne aber nicht Grundlage dafür sein, einer ganzen Bevölkerungsgruppe das Wahlrecht - ein im Grundgesetz verankertes Grundrecht - abzuerkennen, erkannte das Verfassungsgericht.

Für Jan bedeutet das, dass er nun erstmals mitbestimmen darf, wer künftig Deutschland regiert. "Das ist sehr gut und ich hoffe, dass möglichst viele wählen gehen“, sagt der Greifensteiner (Lahn-Dill), der bei der Lebenshilfe in Dillenburg als Gärtner arbeitet, im Gespräch mit dem hr. Seine Stimme hat Jan bereits per Briefwahl abgegeben, mit voller Überzeugung, wie er erzählt.

Überhaupt ist Jan ein gutes Beispiel dafür, dass auch Menschen mit Vollbetreuung durchaus selbstbestimmt wählen können. Er schaut jeden Tag die Nachrichten im Fernsehen, aber vor allem tauscht er sich sehr rege mit seiner Schwester Sophie aus, die auch zum ersten Mal wählen darf. Mit ihr zusammen er hat im Rahmen einer Filmaktion der Lebenshilfe sogar führende Politiker und Politikerinnen vieler Parteien interviewt.

Externer Inhalt

Externen Inhalt von YouTube (Video) anzeigen?

An dieser Stelle befindet sich ein von unserer Redaktion empfohlener Inhalt von YouTube (Video). Beim Laden des Inhalts werden Daten an den Anbieter und ggf. weitere Dritte übertragen. Nähere Informationen erhalten Sie in unseren

Ende des externen Inhalts

Schon die letzte Bundestagswahl hat Jan mit großem Interesse verfolgt, dass am Ende wieder eine Große Koalition dabei herauskam, fand er "etwas einseitig". Das will er diesmal verhindern - mit seiner eigenen Stimme.

Politische Bildung für beeinträchtigte Menschen

Doch nicht alle Menschen mit Beeinträchtigungen haben das Glück, ein politisch interessiertes Familienmitglied an ihrer Seite zu haben. Vor allem Bewohner und Bewohnerinnen in Heimen oder Wohngruppen sind auf Hilfe angewiesen, bevor es an die Wahlurne geht.

Per Gesetz fällt diese Rolle den jeweiligen rechtlichen Betreuerinnen und Betreuern zu, die diese aber oft aus Zeitmangel nicht ausreichend ausfüllen können.

Umso wichtiger sind zusätzliche Angebote für die Menschen mit Behinderungen. Pfleger Christof Ehinger von der Stiftung Nieder-Ramstädter Diakonie aus Mühltal (Darmstadt-Dieburg) hat solch ein Angebot bereits vor vielen Jahren ins Leben gerufen. Seit 2014 veranstaltet er in der Wohngruppe in Mörfelden-Walldorf (Groß-Gerau) einmal im Monat einen politischen Abend.

Leichte Sprache, knappe Sätze

"Wir arbeiten die aktuellen Nachrichten in leichter Sprache mit knappen Sätzen oder in kleinen Videos auf", erzählt Ehinger, der auch Fachpädagoge für Erwachsenenbildung mit dem Schwerpunkt der Bildung von Menschen mit Beeinträchtigungen ist.

Neben dem aktuellen Tagesgeschehen stünden auch grundlegende Themen, wie etwa die Funktionsweise der Demokratie oder aktuell die Bundestagswahl auf dem Programm. "Über die Jahre haben wir so in der Gruppe ein hohes Fachwissen aufgebaut." Ehingers Motto: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht unterfordern.

Seit zwei Jahren hat Ehinger zudem Hilfe von Katharina Steinbacher, einer Bewohnerin der Einrichtung, die die politischen Abende mitgestaltet. "Ich kann das den behinderten Menschen besonders gut erklären", sagt die 61-Jährige, die selbst eine leichte geistige Beeinträchtigung hat.

Sie findet es wichtig, "dass auch Menschen mit Behinderungen genau wissen, was sie wählen wollen." Im Alltag ist sie Ansprechpartnerin für alle im Wohnheim, wenn es um Politik geht. Viele würden ihr Fragen stellen oder einfach mit ihr diskutieren wollen, schildert Steinbacher. Gelebte Inklusion im Kleinen.

Christof Ehinger und Katharina Steinbacher veranstalten politische Abende.

"Elementarer Schritt in der Inklusion"

Dass jetzt erstmals alle Bürger und Bürgerinnen in Deutschland bei einer Bundestagswahl wählen dürfen - auch die Beeinträchtigten mit Vollbetreuung - empfindet Ehinger als "ganz wichtigen und elementaren Schritt in der Inklusion".

Teilhabe ist das Stichwort: Jahrelang habe Ehinger mit Menschen nur über Demokratie und die Bedeutung von Wahlen sprechen können, ohne dass sie tatsächlich teilhaben konnten an diesem grundlegenden Prozess. "Da war die Frustration sehr groß."

Bedenken, das neu gewonnene Wahlrecht könne durch Betreuer oder Betreuerinnen missbraucht werden, hält Ehinger für nicht berechtigt: "Selbst wenn es hier und da Missbrauch geben sollte, fällt der bei über 60 Millionen Wahlberechtigten kaum ins Gewicht." Das müsse eine Demokratie aushalten, findet der Pfleger. "Das Recht zu Wählen steht klar darüber."

Esser: "UN-Konvetion näher gekommen"

So sieht das auch Rika Esser, die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen. "Wir können natürlich nicht in der Wahlkabine danebenstehen und das überprüfen", sagt die 50-Jährige im Gespräch mit dem hr, "da müssen wir auch ein Stück weit Vertrauen haben".

Viel größer als die Angst vor Missbrauch sei die Freude darüber, dass die Betroffen nun endlich ihr Wahlrecht wahrnehmen können. "Da kommen wir wieder ein Stück näher an die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2008, dass nämlich alle Menschen bei uns Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben genießen sollen", so Esser.

Weitere Informationen

Auszug aus Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention

Die Vertragsstaaten garantieren Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen zu genießen, und verpflichten sich sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden.

Ende der weiteren Informationen

Für Jan aus Greifenstein bedeutet politische Teilhabe sogar noch mehr, als nur die Ausübung des Wahlrechts. Er kann sich vorstellen, auch aktiv in die Politik zu gehen, um die Bedingungen für Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu verbessern. Dabei stapelt er nicht gerade tief: "Ich würde mich als Bundeskanzler sehen." Eine charmante Vorstellung.

Weitere Informationen Ende der weiteren Informationen