Annalena Baerbock und Olaf Scholz sitzen im Fernsehstudio in Sesseln, daneben kleine Tische mit Wassergläsern, bei einer Diskussionsrunde. Armin Laschet wird auf einem Fernsehschirm gezeigt.

Klimawandel, Corona, Afghanistan - große Themen, mit denen sich die Kanzlerkandidaten im Wahlkampf profilieren könnten. Eigentlich, denn um Inhalte geht es bislang kaum. Der Kasseler Politologe Wolfgang Schroeder erklärt, warum sich das jetzt ändern dürfte.

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Herr Schroeder, macht die Weltlage es den Kandidat:innen dieses Mal besonders schwer?

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder Uni Kassel
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Wenig Inhalte, Kandidaten im "Schlafwagen"-Modus: Im Bundestagswahlkampf scheinen die Kanzlerkandidatin und -kandidaten vor allem möglichst wenig Angriffsfläche für den politischen Gegner bieten zu wollen - allerdings mit mäßigem Erfolg. Keiner der drei löst Euphorie bei den Wählerinnen und Wählern aus. Dabei fehlt es nicht an Themen.

Der Kasseler Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder erklärt im Interview, warum der Wahlkampf für die Parteistrategen diesmal besonders kompliziert ist - warum er jetzt vermutlich aber spannender wird.

hessenschau.de: Herr Schroeder, ein kleines Gedankenspiel zum Einstieg: Nehmen wir an, die Kanzlerkandidaten hießen Markus Söder, Robert Habeck und - sagen wir - Saskia Esken. Hätten wir einen dynamischeren Wahlkampf?

Wolfgang Schroeder: Das ist natürlich eine sehr hypothetische Frage. Aber: Diese hypothetischen Kandidaten sind jedenfalls gegenwärtig kompakter, sie sind offensiver und gleichzeitig mehr in die anderen Lager hineinreichend. Insofern wäre der Wahlkampf wahrscheinlich schon dynamischer.

Ob sie dieses positive Profil als Kandidaten auch hin bekommen hätten, ist aber unklar. Schließlich ist der Wahlkampf auch eine Schwachstellensuche, und wenn man da erst einmal in die Negativspirale kommt, wird es schwer, wieder in die Offensive zu gehen.

Aber wenn sie es hinbekommen hätten, dann gäbe es jetzt eine stärkere positive Personalisierung. Derzeit haben wir insbesondere im Hinblick auf Armin Laschet und Annalena Baerbock eine negative Personalisierung.

Aber man darf nicht verkennen: Die Gleichzeitigkeit von Corona, der Flutkatastrophe, der Klimakrise und Afghanistan - das ist eigentlich ein Programm für zehn Jahre. Generell ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kandidaten positiv zum Zuge kommen, wie das von vielen gewünscht und von Parteistrategen geplant wurde, mit einem starken Fragezeichen versehen.

hessenschau.de: Die Weltlage macht es den Wahlkampfstrategen also diesmal besonders schwer?

Schroeder: Absolut. Auf diese weltpolitischen Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Afghanistan, die Flut, Corona sind ambivalente Lagen. Das heißt, Antworten darauf lassen sich auch für die, die ein Amt auf ihrer Seite haben, nicht so einfach kommunizieren, dass daraus eine sich selbst tragende Welle zugunsten einer Partei entsteht.

Es sind Gemengelagen, durch die sich die Kandidaten durchwuseln müssen und damit die Hoffnung verbinden, dass sie das etwas überzeugender und klarer als die anderen formulieren können. Oder einfach weniger in Fettnäpfchen treten.

hessenschau.de: Was sich in den aktuellen Umfragen widerspiegelt.

Schroeder: Was damit zusammenhängt, ist die Frage von Führungsstärke. Und die ist das Ergebnis von Kompetenz, von Durchsetzungsfähigkeit, von Vertrauen, von Sympathie und auch von Werten.

Und das Ganze muss in einer medialen Umwelt inszeniert, in Bilder gefasst und für Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar gemacht werden. Denn diese haben ja in der Regel keinen direkten Kontakt zu den Kandidaten.

hessenschau.de: Wie erklären Sie sich vor diesem Hintergrund, dass Kandidaten ausgewählt wurden, die von vornherein in der Bevölkerung weniger beliebt waren?

Schroeder: Dazu muss man sagen, dass die Auswahl der Kandidaten in den Parteien viel stärker parteiinternen Motiven folgt als elektoralen. Wenn man nur geschaut hätte, wer bei den Wählern besser ankommt, dann hätte man auf Seiten der Union tatsächlich Söder genommen und auf Seiten der Grünen Habeck.

Das hat man aber nicht gemacht, weil im Zentrum des deutschen politischen Systems - trotz aller immer schon vorhandener Personalisierung im Wahlkampf - immer noch Parteien stehen. Das ist grundsätzlich anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten oder Frankreich, wo traditionell eine massive Form der Personalisierung existiert.

Das ist auch in Zahlen greifbar: Nach der Bundestagswahl 2017 gab es eine Nachwahluntersuchung, in der die Wählerinnen und Wähler gefragt wurden, was den Ausschlag für ihre Wahl gegeben hat. War es der Kandidat, das Thema oder die Partei? Da sagten 76 Prozent: Ich habe die Partei gewählt, der ich am nächsten stehe.

hessenschau.de: Wobei die Parteibindung in den vergangenen Jahren immer weiter abgenommen hat.

Schroeder: Die Bindung an die Parteien nimmt ab. Damit haben wir eine starke Volatilität. Allerdings ist eine situative, spontanere Wahlentscheidung meist nicht beliebig. Sie findet primär innerhalb der Lagergrenzen und zwischen den ehemaligen großen Parteien statt. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Linker auf einmal die AfD wählt.

Hinzu kommt: Wenn die Ratlosigkeit und die Offenheit eines Wahlkampfes so groß ist wie wir das augenblicklich erleben, dann können die Kandidaten oder die Themen am Ende den Ausschlag geben - aufbauend auf einer gewissen Grundorientierung im politischen Bereich.

hessenschau.de: Das langfristig dominierende Thema ist der Klimawandel. Hier haben zumindest die Grünen ein Programm, das im Wahlkampf einzahlen könnte.

Schroeder: Das zahlt bei den Grünen schon massiv ein. Sie müssen sehen, dass das grüne Kernklientel bislang bei sieben bis neun Prozent liegt. Die Grünen haben bei der Bundestagswahl 2017 noch 8,9 Prozent bekommen. Jetzt sind es in den Umfragen um die 20 Prozent.

Das lässt sich ohne die Politisierung des Themas Klima nicht verstehen. Sie sind der größte Nutznießer bei diesem Thema, auch weil ihnen die größten Kompetenzen zugesprochen werden.

hessenschau.de: Nun gibt es Kräfte, die sich an den Grünen besonders abarbeiten - und das, wo sie zum Beispiel hier in Hessen geräuschlos mitregieren. Warum werden Untergangsszenarien beschworen, sollten sie an die Regierung kommen?

Schroeder: Ich glaube, die Attacken gegen die Grünen wirken deshalb besonders hart, weil zuvor in einer freundlichen, unkritischen Form mit ihnen umgegangen wurde.

Dann wurde genauer nachgeschaut: Was ist mit der politischen Biografie der Kandidatin? Was ist mit ihrem beruflichen Werdegang? Was ist mit ihrer Fähigkeit, präzise arbeiten zu können? Da hatte man dann mehr Fragezeichen als Antworten.

Dann setzt sich eine Dynamik negativer Kommunikation in Gang, die aus meiner Sicht für Wahlkämpfe typisch ist - vor allem Anfängerinnen und Anfänger werden besonders hart geprüft. Und dann wird die Kandidatin zur Belastung für die Partei, die bisher allerdings sehr kollegial mit der angeschlagenen Kandidatin umgegangen ist.

hessenschau.de: Die CDU kann davon aber nicht profitieren. Bedeuten deren Verluste, dass es eine gewisse Wechselstimmung in der Bevölkerung gibt, ähnlich wie 1998?

Schroeder: Absolut. Es gibt eine Umfrage von Allensbach aus dem Juli dieses Jahres, die genau dieses Thema ins Zentrum rückte. Da lautete die Frage: Wäre es gut, wenn die Bundesregierung in Berlin wechseln würde oder wäre es nicht gut? Damals haben 61 Prozent gesagt, es wäre gut, wenn es zu einem Wechsel in Berlin käme.

hessenschau.de: Wobei der bedeutendste Wechsel ohnehin ist, dass die amtierende Kanzlerin nicht mehr antritt.

Schroeder: Der Kontext ist in der Tat spannend: Diese Bundestagswahl zeichnet sich erstens dadurch aus, dass erstmals seit 1949 kein amtierender Kanzler, keine amtierende Kanzlerin antritt.

Zweitens haben wir, wie schon gesagt, drei Kandidaten, die in der Wählergunst nicht herausragend bewertet werden. Bislang war die Antwort bei Befragungen immer, dass um die 50 Prozent keinen der drei Kandidaten als Bundeskanzler, Bundeskanzlerin sehen wollten.

Dann hatten wir durch Corona, durch die Flut, in den vergangenen Monaten andere Themen, die die Bürger interessiert haben. Das heißt: Wir kommen jetzt erst richtig in eine Wahlkampfstimmung, wo die Menschen genau hinschauen und fragen: Was ist das Thema, wie ist der Kandidat, was sind die Zukunftsentscheidungen, die mich betreffen?

hessenschau.de: Sie gehen also davon aus, dass der Wahlkampf doch noch dynamischer wird?

Schroeder: Auf jeden Fall. Es gab jetzt eine erste Phase des Wahlkampfes, in der die Belastbarkeit der Kandidatin und der Kandidaten erprobt wurde, an deren Ende momentan Olaf Scholz vorne liegt.

In der nächsten Wahlkampfphase wird es vermutlich mehr um Inhalte gehen, Zukunftsfragen werden eine größere Bedeutung bekommen, die Attacken zwischen den Parteien werden zunehmen. Trotzdem kann es am Ende doch so sein, dass die Personen den Ausschlag geben.

hessenschau.de: Spielen die Sozialen Medien dabei eine größere Rolle als in der Vergangenheit?

Schroeder: Was wir aus kommunikations- und medienwissenschaftlichen Analysen in Korrelation zum Wahlergebnis wissen ist, dass in den Social-Media-Aktivitäten nicht der Boden für den Wahlsieg liegt. Aber: Es kann der Boden für die Wahlniederlage vorbereitet werden.

Nach wie vor überragend ist die Bildkommunikation. Da spielt das Fernsehen die herausragende Rolle. Wenn wir über den bisherigen Wahlkampf nachdenken, haben wir Bilder im Kopf: Laschets Lachen während der Steinmeier-Rede zu den Flutopfern etwa.

Aber über Social Media können Effekte der Dynamisierung einsetzen, die den Wahlkampf in eine andere Richtung bringen könnten - wie etwa die Videos des Youtubers Rezo. Schon im Europawahlkampf 2019 hat das die CDU in besonderer Weise herausgefordert.

Auch dieses Mal scheint es so zu sein, dass die CDU größere Probleme mit den Social-Media-Attacken hat als die anderen Parteien. Ursächlich dafür ist, dass der Kandidat auch Steilvorlagen für die vereinfachte Social-Media-Kommunikation bietet.

hessenschau.de: In den Umfragen liegen nun gleich drei Parteien bei um die 20 Prozent. Was bedeutet das für die Regierungsbildung?

Schroeder: Das ist ein Novum für die Bundesrepublik, denn bisher war es ein Rennen zwischen den beiden bekannten Volksparteien oder es war meist eine klar asymmetrische Struktur zugunsten der CDU. Das aber drei Parteien im mittleren Bereich platziert sind, das ist vollkommen neu.

Das wird natürlich massive Auswirkungen auf die Regierungsbildung haben. Ein Zweierbündnis ist nach wie vor möglich. Möglicherweise wird aber erstmals auch ein Dreierbündnis gebildet werden. Wir wissen schlicht noch nicht, ob und wie das funktionieren kann.

Übrigens ist angesichts dieser Unübersichtlichkeit auch strategisches Wählen unmöglich. Wer zum Beispiel als CDU-Anhänger, enttäuscht von Laschet, die FDP wählt, um aus seiner Sicht das bürgerliche Lager zu stärken, kann am Ende das sogenannte bürgerliche Lager schwächen. Dazu kommt auch, dass es sein kann, das sich die stärkste Partei am Ende in der Opposition wieder findet.

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Wolfgang Schroeder

Seit 2006 ist Wolfgang Schroeder Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Kassel. Von 2009 bis 2014 war er Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg. Er ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

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