Marburg Letzte Generation

Darf ein Politiker einen Kompromiss mit Klimaaktivisten eingehen, die Straftaten begehen? Marburgs OB hat das getan. Nicht unter Druck, sondern weil er die Forderungen der "Letzten Generation" ohnehin teile, sagt er. Insbesondere aus den Reihen der CDU reißen die Vorwürfe nicht ab.

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Marburger OB Spies zur Unterstützung der "Letzten Generation"

Thomas Spies
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Es sind harte Vorwürfe, die sich seit Montag an den Marburger Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD) richten: Er befinde sich "auf einem fatalen und gefährlichen Irrweg" und schade mit seinem Handeln "der Demokratie und dem Rechtsstaat insgesamt", schreibt etwa der Marburger CDU-Bundestagsabgeordnete Stefan Heck.

Der Landtagsabgeordnete Dirk Bamberger (CDU) wirft Spies vor, rechtsstaatliche Prinzipien aufzugeben und sich erpressbar zu machen. Und auch der hessische Justizminister Roman Poseck schließt sich der Kritik seiner Parteikollegen an: Es sei ein "fatales Signal, wenn jetzt einzelne Oberbürgermeister Kompromisse mit der Letzten Generation eingehen, um weitere Straftaten in ihrer Stadt zu verhindern".

Einigung mit "Letzter Generation"

Spies hatte am Montag als dritter deutscher Oberbürgermeister nach Gesprächen mit den als radikal geltenden Klimaaktivistinnen und -aktivisten einen Brief mit klimapolitischen Forderungen an die Bundesregierung und den Bundestag geschrieben. Im Gegenzug dazu versprach die "Letzte Generation", ihre Proteste und Straßenblockaden in der Stadt zu beenden.

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Die gemeinsamen Forderungen

Diese Forderungen der "Letzten Generation" hat der Marburger Oberbürgermeister Thomas Spies in seinem Brief an die Bundesregierung und den Bundestag aufgenommen:

  • ein dauerhaftes bundesweites 9-Euro-Ticket
  • ein Tempolimit auf Autobahnen
  • ein Bürger*innenrat in der Bundespolitik, in dem sich zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger mit Lösungen und Ansätzen für das Klimaneutralitätsziel beteiligen können
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Spies: "Da lache ich herzhaft"

Mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe durch seine Einigung mit den Aktivistinnen und Aktivisten rechtsstaatliche oder demokratische Prinzipien aufgegeben, sagt Spies am Dienstag: "Da lache ich herzhaft."

Im Gegenteil, sagt er, sei er "ein großer Freund der Demokratie und der Gewaltenteilung". In einem Rechtsstaat sei es Aufgabe der Gerichte, über Strafen der "vermutlich rechtswidrigen Taten" der Gruppierung zu entscheiden. Die Stadt sei mit dem Ordnungsamt hingegen dafür zuständig, geltende Regeln durchzusetzen - und etwa dafür zu sorgen, dass der Verkehr nicht durch Straßenblockaden behindert werde.

Auch den Vorwurf, sich erpressbar gemacht zu haben, weist er entschieden zurück. "Was sind das für Politiker, die denken, ich würde mich durch Druck dazu bringen lassen, meine Haltung zu ändern?", fragt Spies. Er argumentiert: Die Forderungen, die er in seinem Brief an die Bundespolitik gerichtet hat, seien Forderungen, hinter denen die Stadt Marburg ohnehin stehe.

Emotionalisierung auf allen Seiten

Der Vorwurf des "Sich-erpressbar-machens" sei aus seiner Sicht unlogisch, sagt auch Felix Anderl, Professor am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg mit Fokus auf soziale Bewegungen und Umweltkonflikte. Von einer Erpressung könne gesprochen werden, "wenn jemand plötzlich seine Meinung ändert - um ein Ziel zu erreichen, was er andernfalls nicht verfolgen würde", sagt Anderl.

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Über Begriffe wie "Erpressung" werde aus seiner Sicht versucht, eine Assoziation mit Terrorismus und der Roten Armee Fraktion (RAF) zu schaffen - und die Diskussion zu emotionalisieren. Die RAF wollte durch gezielte terroristische Anschläge in den 1970er Jahren die politische Ordnung der BRD ändern. Insbesondere die sogenannte zweite Generation setzte dabei auch auf Erpressung.

Emotionalisiert sei die Debatte um Klimaaktivismus ohnehin - von mehreren Seiten, sagt Konfliktforscher Anderl. "Die Aktivisten tun das schon allein damit, sich 'Letzte Generation' zu nennen", sagt er. Dann gebe es das emotionale Freiheitsthema, das im Zuge mit Fahrverboten und Tempolimits oft in die Debatte gebracht werde.

Und schließlich die Seite, die Aktionen der "Letzten Generation" als "terroristisch" oder "gefährlich für die Demokratie" bezeichne. Dahinter stehe der Versuch, die Debatte "abzuwürgen, um nicht über die eigentlichen Inhalte sprechen zu müssen", sagt Anderl. "Und das gelingt ja auch: wir reden immer wieder über die Form des Protests und nicht über den Inhalt."

Konfliktforscher: Neuer Schritt des Protests

Doch tragen die Aktivistinnen und Aktivisten dazu nicht auch selbst bei? Klar ist für Anderl: Öffentliche Entrüstung und damit mediale Aufmerksamkeit erzielt die "Letzte Generation" erfolgreich. Doch ob sie dadurch Zuspruch gewinnt und politische Veränderungen bewirkt? "Da haben wir aktuell eine gemischte Bilanz", sagt der Wissenschaftler.

Zwar sei das Thema Klima präsenter geworden, doch konkrete politische Veränderungen seien bislang nicht nachweislich auf die Gruppe zurückzuführen. Möglicherweise sei der Weg über Gespräche mit einzelnen Kommunen wie in Marburg nun ein neuer Schritt, sagt Anderl.

Nur leere Worte ohne Wirkung?

Kritiker der Entscheidung des Marburger Oberbürgermeisters wie etwa der CDU-Politiker Bamberger befürchten, dass es sich bei dem Brief um "leere Worte" handle und ziehen einen Vergleich zum Ausruf des Klimanotstandes, der wenig gebracht habe.

"Ja, die Welt wird morgen keine andere sein, weil ich diesen Brief geschrieben habe", räumt Oberbürgermeister Spies ein. Aber man könne durch viele kleine Schritte dazu beitragen, ein Bewusstsein zu schaffen. "Politische Symbole sind wirkmächtig."

Spies hofft auf Schneeballeffekt

Natürlich könne es passieren, dass der Brief wieder verhalle und keine politische Konsequenz habe, sagt Anderl vom Zentrum für Konfliktforschung. "Es kann aber auch sein, dass sich andere Städte anschließen und es eine Art Schneeballeffekt gibt".

Darauf scheint auch der Marburger Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD) zu hoffen. Neben all der Kritik an seinem Brief habe die Stadt "interessierte Anfragen von anderen Kommunen" erhalten, sagt er. Namen will er nicht nennen.

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