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Lichtlein: "Können uns auf Torhüter verlassen"

Carsten Lichtlein feuert an

Welt- und Europameister Carsten Lichtlein spricht über seine Erben Andreas Wolff und Joel Birlehm im deutschen Tor. Außerdem erklärt der Melsunger Torwarttrainer, wie der Handball sich verändert hat – und wie man Turniere gewinnt.

Carsten Lichtlein wurde als Torhüter mit Deutschland Welt- und Europameister. Er ist der Rekordspieler der Bundesliga. Derzeit arbeitet der 42-Jährige als Torwarttrainer bei der MT Melsungen. Im Interview mit dem hr spricht er über die Erkenntnisse bei der Handball-WM 2023.

hessenschau.de: Wie sehen Sie die Leistungen der deutschen Torhüter bei der WM?

Carsten Lichtlein: Sowohl Andi Wolff als auch Joel Birlehm machen ihre Sache sehr gut. Sie geben ihrer Abwehr Sicherheit und die nötigen wichtigen Bälle, um die Spiele zu gewinnen. Wenn es so weitergeht, können wir uns wie immer auf die Torhüter verlassen. Das braucht ein Team, um Großes zu erreichen.

hessenschau.de: Andreas Wolff selbst sagt, dass er sich verändert habe. Sehen Sie das auch so?

Lichtlein: Andi war schon immer extrem ehrgeizig. Ich habe ihn als jungen Torhüter kennengelernt, damals konnte er mir auch viel Spielzeit gönnen. Er hat nun selbst eingeräumt, dass er in den vergangenen Jahren allerdings etwas verkrampft wurde. Andi hat sich zu sehr aufgeregt, wenn er mal raus musste oder einen Ball nicht gehalten hatte. Emotionen sind gut, keine Frage, aber wenn man als Torhüter seine Unzufriedenheit so nach außen kehrt, ist das auch immer ein Signal an den Gegner. Und man selbst verliert den Fokus. Jetzt wirkt er wieder lockerer.

hessenschau.de: Nach dem Europameister-Titel 2016 hat er sich explizit bei Ihnen für die Hilfe bedankt. Dabei waren Sie doch eigentlich Konkurrenten.

Lichtlein: Wir haben uns super verstanden und verstehen uns immer noch gut. Wir haben uns damals nicht als Rivalen gesehen, sondern als ein Gespann. Wenn der eine einen schlechten Tag hatte, ist der andere eingesprungen. Wir haben uns gegenseitig Tipps gegeben und motiviert. Du darfst dir als Torhüter keine Grabenkämpfe erlauben, denn das wirkt sich negativ aufs Team aus.

hessenschau.de: Aber kann ein angespanntes Verhältnis nicht auch gegenseitig pushen?

Lichtlein: Nein, du wirst nie die beste Leistung erreichen, wenn das Verhältnis angespannt ist und du permanent den Druck des Kollegen spürst. Wir waren immer erfolgreich, wenn die Torhüter miteinander harmoniert haben.

hessenschau.de: War das entscheidend dafür, Joel Birlehm als zweiten Torhüter zu nominieren? Auf diese Weise war die Rollenverteilung klar – und Wolff die Nummer eins.

Lichtlein: Nein, an Andis Einstellung und Ehrgeiz ändert es nichts, wer auch immer noch nominiert wird. Auf der Torhüter-Position haben wir sowieso keine Sorgen, wir haben genug Klassespieler. Und Joel hat sich die Nominierung durch starke Leistungen absolut verdient.

hessenschau.de: Trotzdem hätten viele Experten mit Till Klimpke von der HSG Wetzlar gerechnet.

Lichtlein: Ich gebe zu, dass mich das auch etwas überrascht hat, weil bei den Rhein-Neckar Löwen, Birlehms Team, eben auch Mikael Appelgren und David Späth im Tor standen – zum Beispiel beim Pokalduell im Dezember gegen uns. Trotzdem kam Joel auch auf seine Spielzeiten. Bei Till muss man festhalten, dass er nicht mehr so gut auftrat wie in den Jahren zuvor. Er hat es aber auch schwer in Wetzlar, weil die Mannschaft durch Abgänge wie von Olle Forsell Schefvert geschwächt wurde.

hessenschau.de: Am 12. Dezember schaffte Birlehm gegen Göppingen 22 Paraden, zeitgleich Ihr MT-Torhüter Adam Morawski 20 gegen Kiel. Sind diese krassen Zahlen Zufall oder dem durch die Regeländerungen schnelleren Spiel geschuldet?

Lichtlein: Sicher auch Zweiteres. Das Spiel wird insgesamt schneller und attraktiver. Es gibt jetzt viel mehr Eins-gegen-Eins, viel mehr freie Würfe und Tempogegenstöße. Wir legen nun auch in unserer Arbeit den Fokus auf das Stellungsspiel bei Durchbrüchen. Wir schauen uns in der Videoanalyse genau an, welche Spezialwürfe die gegnerischen Angreifer haben.

Carsten Lichtlein von der MT Melsungen

hessenschau.de: Morawski spielt bei der WM für Polen, der andere MT-Torhüter Nebojsa Simic für Montenegro. Wie sehen Sie die beiden?

Lichtlein: Simo macht, wie schon die ganze Saison über, einen super Job. Er hat es auch ein bisschen leichter als Adam. Der tut mir leid, weil ihn seine Abwehr auch oft im Stich lässt. Gegen die Slowenen wurde er kritisiert - dabei konnte er gar nicht so viel ausrichten. Als Torwart muss deine Abwehr auch gut blocken, sodass du in dein Eck gehen und leichtere Bälle halten kannst. Nur so holst du dir die Sicherheit für die schwierigen Bälle.

hessenschau.de: Sie sprechen die Abwehr an. Bei den Deutschen wirkte sie gegen Serbien auch nicht so sicher wie gewohnt. Trainer Alfred Gislason stellte zwischenzeitlich auf 3-2-1 um.

Lichtlein: Es ist gut, den Gegner so vor neue Aufgaben zu stellen. Aber keine Frage, wir müssen eine bessere Abwehr spielen! Jetzt kommen mit Norwegen oder die Niederlande andere Kaliber. Der Niederländer Luc Steins beispielsweise sucht das Eins gegen Eins, er wird uns fordern. Unsere Stärke war immer eine gute Abwehr. Die brauchen wir auch jetzt.

hessenschau.de: Was trauen Sie der deutschen Mannschaft zu?

Lichtlein: Ich bin kein gutes Orakel. Doch spätestens in der K.o.-Phase werden Nuancen entscheiden. 2016 - auf dem Weg zum Titel - haben wir gegen Russland oder Norwegen mit nur einem Tor gewonnen. Wichtig wird sein, dass die Mannschaft kühlen Kopf bewahrt und auch die Schwächephasen wie gegen Serbien oder im Test gegen Island minimal hält.

hessenschau.de: Haben Sie psychologische Tipps aus Ihrer langen Turniererfahrung?

Lichtlein: Bei jedem Turnier gibt es irgendwann Lagerkoller. Da musst du die Jungs auch mal rausschicken und sagen: 'Keiner bleibt auf seinem Zimmer!' Doch wenn ich an 2016 denke, haben wir auch immer wieder die gleiche Playlist gehört – da wirst du in der Birne ja behämmert. Gerade als älterer Spieler kanntest du alle Abläufe. Daher war es gut, dass wir so viele neue Gesichter dabei hatten, die frisch und ungehemmt an die Sache gegangen sind. Das ist eine Parallele zu heutigen Jungs wie Birlehm, Julian Köster oder Juri Knorr. Und irgendwann in der Hauptrunde fühlst du dich dann wie auf einer Welle, die du reiten musst. Ganz einfach.

Das Gespräch führte Ron Ulrich