Seit Jahren streiten Verdi und Amazon über die Einführung eines Tarifvertrags. (dpa)

Auch zehn Jahre nach den ersten Verdi-Streiks bei Amazon hat die Gewerkschaft noch keinen Tarifvertrag erzwungen. Als Scheitern sieht Verdi das nicht. Handelsexperten sprechen dagegen von einem Armutszeugnis.

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Verdi-Streiks bei Amazon

Ein Mitarbeiter eines Amazon-Versandlagers hantiert mit Paketen.
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Es ist einer der langwierigsten Tarifkonflikte in Deutschland: Der schwelende Streit zwischen der Gewerkschaft Verdi und dem Versandhandels-Riesen und Techkonzern Amazon aus den USA. Zehn Jahre ist es bald her, dass es am 14. Mai 2013 zum ersten Arbeitskampf kam.

Betroffen waren die Amazon-Standorte in Bad Hersfeld und Leipzig. Insgesamt rund 1.700 Menschen protestierten dort damals. Dutzende Streikwellen folgten seitdem - gerne zu Weihnachten oder anderen umsatzstarken Terminen.

36.000 Beschäftigte arbeiten für Amazon in Deutschland

Bad Hersfeld war von Anfang an Ziel der Streik-Aktivitäten. Dort wurde auch 1999 das erste Waren- und Versandzentrum in Deutschland errichtet. Mittlerweile gibt es 20 Amazon-Zentren: Rund 36.000 Beschäftigte sind für den Handelsriesen in Deutschland tätig, viele davon in der Logistik.

Amazon: "Auch ohne Tarifvertrag ein guter Arbeitgeber"

Streik hin und her - Amazon pfeift nach wie vor darauf, sich von Verdi einen Tarifvertrag aufzwingen zu lassen. Amazon-Regionaldirektor Norbert Brandau sagt dazu: "Amazon zeigt jeden Tag, dass es möglich ist, auch ohne Tarifvertrag ein guter Arbeitgeber zu sein. Daran arbeiten wir mit Betriebsräten und Mitarbeitern. Wir bieten gute Bezahlung, Sozialleistungen und Entwicklungsmöglichkeiten."

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Was man bei Amazon im Versandlager verdient

Der Einstiegslohn im Bereich Logistik liegt bei Amazon in Deutschland bei mindestens 13 Euro brutto pro Stunde, inklusive Bonuszahlungen. Nach zwei Jahren Betriebszugehörigkeit liegt der Lohn im Durchschnitt bei über 35.000 Euro brutto pro Jahr. Zahlreiche Extras und Vergünstigungen kommen noch hinzu, wie Amazon mitteilte.

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Amazon ein guter Arbeitgeber? Stefanie Nutzenberger aus dem Verdi-Bundesvorstand wirft dem Unternehmen vor, sich auf dem Rücken der Beschäftigten Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und dadurch den Verdrängungswettbewerb im Handel zu beschleunigen. Nur Tarifverträge schützten Beschäftigte vor Unternehmenswillkür und seien ein Zeichen von Anerkennung der harten Arbeit, sagte sie laut einer Mitteilung in Berlin. "Es geht um Würde und Respekt."

Monika di Silvestre, die für Amazon zuständige Handels-Expertin im Verdi-Bundesverband, sagt: "Der Ärger, dass sich Amazon weigert, an den Verhandlungstisch zu kommen, wird bei den Beschäftigten immer größer." Doch klein beigeben will Verdi nicht. "Wir kämpfen so lange, wie es nötig ist. Und wenn es noch zehn Jahre sind, dann soll es so sein."

Verdi: "Wir geben die Hoffnung nicht auf"

Di Silvestre betont: "Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass wir uns durchsetzen werden. Der Kampfeswille ist ungebrochen." Sie findet nicht, dass der Kampf gegen den Handels-Riesen aussichtslos ist. Dabei versichert Amazon, dass die Streiks keine Auswirkungen auf die Belieferungen der Kundschaft hätten.

Fachleute, die den Tarifkonflikt seit langem beobachten, haben sich eine Meinung gebildet. Gerrit Heinemann, Handelsexperte und Professor an der Hochschule Niederrhein sagt: "Verdi beißt sich im Tarifkonflikt mit Amazon weiter die Zähne aus. Dieser Streit erinnert an die US-Komödie 'Und täglich grüßt das Murmeltier', weil immer wieder das Gleiche passiert, ohne dass sich etwas ändert."

Heinemann beobachtet: "Die Umsätze bei Amazon wachsen trotz der Streiks. Verdi hat es nicht geschafft, Amazon einen sichtbaren Schaden zuzufügen." Und selbst wenn gestreikt werde, könne Amazon andere europäische Standorte zur Belieferung der Kunden nutzen.

Experte: "Verdi nutzt den Streik zur Mitgliedergewinnung"

Handelsexperte Heinemann vermutet, dass Verdi vom Streik als Gewerkschaft profitieren möchte: "Verdi nutzt den Tarifkonflikt mit Amazon, um Mitglieder zu gewinnen. Über diese Auseinandersetzung erzielt Verdi viel öffentliche Aufmerksamkeit und einen positiven PR-Effekt, in dem man sich mutig mit einem als böse dargestellten Unternehmen anlegt."

Auf Anfrage bestätigte di Silvestre: "Wir haben Mitglieder gewonnen." Über Zahlen und die Höhe des Organisationsgrades von Verdi bei Amazon wollte sie aber keine Angaben machen.

Zahlen existieren hingegen zur generellen Reichweite von Tarifverträgen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gibt es einen deutlichen Rückgang bei der Tarifbindung in Deutschland. Dabei sind auch Unterschiede zwischen Ost und West sichtbar - aber der Trend zeigt überall nach unten.

Bedeutung von Tarifverträgen sinkt

Im Westen galt 1998 für 76 Prozent der Beschäftigten ein Tarifvertrag. 2021 waren es nur noch 54 Prozent. In Ostdeutschland galten 1998 für 63 Prozent der Angestellten Branchen- oder Firmentarifverträge. Bis 2021 (45 Prozent) ist dieser Anteil um 18 Prozent gesunken. Das heißt: Gewerkschaften müssen zunehmend um Mitglieder und ihre Daseinsberechtigung kämpfen. Neben ihrem Einsatz für Beschäftigte, die tariflich und damit fair bezahlt werden sollen.

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Tariferverträge

Tarifverträge regeln die Bezahlung, Arbeitszeiten und weitere Arbeitsbedingungen. Sie können für Firmen oder Branchen ausgehandelt werden. Für Beschäftigte in Betrieben mit Tarifvertrag gelten Mindeststandards. Für rund 43 Prozent der Arbeitnehmerschaft in Deutschland war das Beschäftigungsverhältnis 2021 durch einen Tarifvertrag geregelt.

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Auch Handelsexperte Thomas Roeb von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sieht Verdi auf verlorenem Posten im Tarifkonflikt: "Es ist nicht zielführend, wenn man zehn Jahre streikt und kein Ergebnis erzielt – das ist ein Armutszeugnis." Offensichtlich habe Amazon die Streiks gut aussitzen können. Doch das sei nicht verwunderlich: "Wenn Streiks so vorhersehbar kommen wie die Adventszeit, ist es auch nicht schwer, sich darauf einzustellen."

Experte rät Verdi: Gras darüber wachsen lassen

Doch wie findet die Gewerkschaft eine Exit-Strategie ohne ihr Gesicht zu verlieren und ein Scheitern eingestehen zu müssen? Roeb meint: "Das sehe ich keine Möglichkeit. Mein Rat: Gras darüber wachsen lassen und hoffen, dass es in Vergessenheit gerät." Aber er glaubt: "Die lassen nicht locker."

Dass das Resultat der Streiks ein Armutszeugnis sei, will Verdi nicht gelten lassen. Di Silvestre findet: "Wir haben viel erreicht: Seit zehn Jahren kämpfen Menschen mutig für ihr Ziel. Unser Motto bleibt: Niemals aufgeben!"

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