Demonstrationszug der AfD mit Deutschlandfahnen, mittendrin Björn Höcke in schwarzem Anzug und schwarzer Krawatte

2018 ging die AfD bei einem "Trauermarsch" in Chemnitz zusammen mit Neonazis auf die Straße. Für Gegendemonstranten aus Marburg endete der Tag mit Gewalt: Sie wurden überfallen und verprügelt. Mehr als fünf Jahre später beginnt nun der erste Prozess.

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Was bleibt vom Hass? 5 Jahre nach den rechten Ausschreitungen in Chemnitz

Pyrotechnik wird in einer Demonstration gezündet, mehrere Deutschlandfahnen und Schilder "Asylflut stoppen"
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Wenn sich Georg Simonsky an den 1. September 2018 in Chemnitz erinnert, dann hat der SPD-Politiker ein Wort noch in den Ohren: "Deutschlandverräter!" Die Angreifer hätten es geschrien, als sie auf ihn und eine Gruppe weiterer SPDler, Jusos und Bürger aus Marburg zurannten und anfingen, einzelne von ihnen zu verprügeln.

Mehr als fünf Jahre später beginnt am Montag der erste von drei Prozessen vor dem Landgericht Chemnitz. Die sechs Angeklagten sollen damals mit der Absicht, politische Gegner anzugreifen, um die Häuser gezogen sein. Ihnen wird Landfriedensbruch und Körperverletzung vorgeworfen. Zwei der Angeklagten fehlten am Montag.

Angeklagt sind auch vorbestrafte Neonazis

Die Marburger sollen die letzte Gruppe gewesen sein, die die Angreifer an diesem Tag erwischten. Sie waren auf der Kundgebung "Herz statt Hetze" gewesen und wurden auf dem Rückweg zu ihrem Reisebus von einer Gruppe von 20 bis 30 vermummten Personen überfallen, erzählt Simonsky.

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Die Reportage von hr-iNFO zu den Ereignissen am 1. September 2018 und der Spur der Gewalt, die bis nach Hessen führte, gibt es in der ARD-Audiothek. In hr-iNFO läuft das Feature am Montag, 11.12., um 20.35 Uhr.

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Einen Mann aus Marburg, der einen Migrationshintergrund hat, hetzten die Angreifer demnach durch einen Park. Schon kurz nach dem Angriff waren 27 Verdächtige ermittelt worden, darunter vorbestrafte Neonazis und Kampfsportler. Mittlerweile sind mehrere Verfahren gegen Geldauflage eingestellt worden - oder weil die Beschuldigten in einem anderen Verfahren verurteilt wurden.

Rechte Ausschreitungen nach dem Tod von Daniel H.

Aus Sicht des Landgerichts in Chemnitz war ein früherer Prozessbeginn nicht möglich: Unter anderem die strengen Vorschriften während der Corona-Pandemie hätten zu Verzögerungen geführt, sagte eine Sprecherin.

Es sei zu lange nichts passiert, kritisieren hingegen Simonsky und auch der Bundestagsabgeordnete Sören Bartol aus Marburg, der damals den Bus organisierte. Der Prozessstart Jahre später wühle bei einigen das Erlebte nochmal auf, sagt Simonsky. Und nicht nur das: Von den Tatverdächtigen gehe bis heute eine Gefahr aus. "Man kennt ja nicht nur ihre Namen, sondern sie kennen auch die Namen der Nebenkläger und Zeugen", sagt Simonsky.

Die Stimmung war im Spätsommer 2018 aufgeheizt: Der Deutsch-Kubaner Daniel H. war Ende August am Rande eines Stadtfestes in Chemnitz getötet worden. Damals verbreitete sich schnell die Nachricht, dass die Täter Flüchtlinge seien. Rechte Gruppen mobilisierten nach Chemnitz, tagelang marodierten Neonazis in der Stadt. Die Ausschreitungen waren bundesweit in den Nachrichten.

"Das ist unsere Stadt"

Die rechten Demonstranten fühlten sich stark: Es kam zu rassistischen Angriffen und gewalttätigen Ausschreitungen gegen Polizei, Gegendemonstranten und Journalisten. In den Straßen von Chemnitz waren in diesen Tagen immer wieder Rufe zu hören: "Wir sind das Volk", "Das ist unsere Stadt" und "Adolf Hitler Hooligans".

Am 1. September, dem Tag des Überfalls auf die Marburger und andere Gruppen, veranstaltete die AfD einen sogenannten "Trauermarsch" zusammen mit der rechtsextremen Pegida. Auch die vom Verfassungsschutz beobachtete Wählervereinigung Pro Chemnitz schloss sich an, hinzu kamen organisierte Neonazis aus ganz Deutschland. Thüringens Landeschef Björn Höcke lief zusammen mit anderen AfD-Politikern ganz vorne.

Es war ein offener Schulterschluss der AfD mit rechtsextremen Organisationen und Neonazis, die aus ganz Deutschland angereist waren. Nach diesem Aufmarsch soll die Gruppe der Angeklagten herumgezogen sein und immer wieder Menschen körperlich attackiert haben.

Neonazi-Influencer mit Haftbefehl gesucht

Einer der mutmaßlichen Angreifer ist Steven Feldmann aus Dortmund, ein bekennender Neonazi und Kampfsportler. Zum Prozessbeginn am Montag erschien er nicht. Sein Vorstrafen-Register ist lang: Körperverletzungen, rassistische Angriffe, er saß schon im Gefängnis. Seit Mitte November müsste der 29-Jährige erneut für mehr als zwei Jahre eine Haftstrafe absitzen, er erschien aber nicht zum Haftantritt. Seitdem wird er per Haftbefehl gesucht.

Im Internet machte Steven Feldmann zuletzt bei Youtube, Tiktok und Instagram eine dubiose Karriere als Nazi-Influencer: In Interviews äußert er sich offen rechtsextrem. Etwa im Video "Migrant trifft Neonazi", das bei Youtube mehr als 1,3 Millionen Mal aufgerufen wurde. Auf seine rechtsextreme Gesinnung ist er stolz, erzählt gerne, dass er alle Ausländer aus Deutschland ausweisen würde. Ehen zwischen Deutschen und Personen ohne deutschen Pass lehnt er ab, Kontakte zu szenebekannten Gewalttätern pflegt er offen.

Angeklagte filmen sich beim Boxen

In den letzten Jahren zeigte er sich immer wieder mit weiteren Angeklagten im Chemnitz-Prozess, ebenfalls bekannte Neonazis. Sie filmten sich beim Kampfsport oder gemeinsamen Abhängen.

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Doku über rechte Influencer

Das ARD-Format STRG_F zeigt, wie die Masche der rechten Influencer funktioniert und wieso der Rassist Feldmann sogar in Teilen der migrantischen Community gut ankommt.

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Solche Videos bei Youtube und Tiktok fanden auch die Chemnitzer Carsten und Paul, als sie die Namen derjenigen im Netz suchten, die sie am 1. September überfallen haben sollen. Die beiden heißen eigentlich anders, auch sie waren bei der "Herz statt Hetze"-Kundgebung. Auf dem Weg nach Hause wurden sie verprügelt, mutmaßlich von derselben Gruppe wie die Marburger. Die Social-Media-Profile mancher Angeklagter finde er erschreckend, sagt Paul. "Das sind Gewalttäter, die in der Öffentlichkeit damit prahlen und sehr martialisch auftreten."

Als Nebenkläger werden Carsten und Paul nun vor Gericht aussagen. Dabei wussten sie jahrelang nicht, ob ihre Anzeige überhaupt Erfolg haben würde. Sie mussten außerdem lange dafür kämpfen, dass ihre Adressen in den Akten zu ihrem Schutz geschwärzt werden. In dieser Zeit hätten die Tatverdächtigen einfach weitergemacht, sagt Paul, "weiter geprügelt und auch wieder Leute eingeschüchtert". Das sei eine Katastrophe. Carsten sagt, manchmal bereue er es, überhaupt Anzeige erstattet zu haben. Er habe ohnehin keine große Hoffnung, dass es für die Täter noch hohe Strafen geben wird.

Opferberatung: "Chemnitz war lange ein Angstraum"

Die Betroffenen der Überfälle werden seit Jahren von der Chemnitzer Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt und von Response Hessen begleitet. Lea Erhard von der Opferberatung Chemnitz warnt vor der Wirkung auf die Täter, wenn nach Gewalttaten jahrelang keine juristische Aufarbeitung stattfindet. Das gebe ihnen das Gefühl, ihre Taten blieben ohne Konsequenzen, sagt sie.

Das Gefühl der Rechten, die Stadt gehöre ihnen, sei in Chemnitz auch nach 2018 hängen geblieben. "Das hat dazu geführt, dass die Täter hemmungslos wurden und Chemnitz für Betroffene lange ein Angstraum war", sagt Erhard. Manche Geflüchtete wollten nach der rassistischen Gewalt aus der Stadt wegziehen. Aus den versprochenen Hilfen aus der Bundespolitik sei jedoch bis heute nichts geworden.

Mörder von Lübcke lief in Chemnitz mit

Der "Trauermarsch" in Chemnitz hatte Folgen bis nach Hessen. Der spätere Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, Stephan Ernst, und der vom Vorwurf der Beihilfe freigesprochene Markus H. fuhren extra mehr als 300 Kilometer, um bei der AfD mitzulaufen. Schon vorher seien die beiden bei Kundgebungen, auf denen der Thüringer Landeschef Björn Höcke redete, gewesen, sagt der Journalist und Rechtsextremismus-Experte Martin Steinhagen.

Über das "Wir-Gefühl" auf der Straße habe Ernst mit dem psychiatrischen Gutachter im Mordprozess vor dem Frankfurter Landgericht gesprochen. Chemnitz sei in den Worten von Ernst "ausschlaggebend" dafür gewesen, wie man später auf Lübcke "zugegangen" sei, sagt Steinhagen: "Bei der Rückfahrt im Auto, so schilderte Ernst es selbst, habe man sich entschieden, dass jetzt etwas passieren muss. Möglicherweise war das der Entschluss, das Attentat zu begehen."

Aus einem Gefühl wird Gewalt

Zu dem Zeitpunkt hatte Ernst Lübcke schon jahrelang auf dem Schirm, aber neun Monate später, Anfang Juni 2019, fuhr er nach Wolfhagen-Istha in der Nähe von Kassel und schoss dem CDU-Politiker in den Kopf.

Nicht nur der Mörder von Lübcke hatte sich in Chemnitz offenbar von dem Gefühl der Allmacht mitreißen lassen. Auch eine Gruppe, die sich Revolution Chemnitz nannte, war damals vor Ort.

Die Neonazis zogen nach dem 1. September als selbsternannte "Bürgerwehr" durch die Stadt und griffen Menschen mit Migrationshintergrund an. Außerdem planten sie einen Anschlag. Bevor sie den umsetzen konnten, wurden sie festgenommen und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Schulterschluss der AfD mit Neonazis

Das "Wir-Gefühl" der Rechten könne bei manchen Personen mit Gewalt-Potenzial eine gefährliche Dynamik auslösen, erklärt Steinhagen: "Sie sind in ihrer Vorstellung so etwas wie Vollstrecker einer schweigenden Mehrheit. Auch wenn das sicherlich nicht zutrifft", sagt er, sähen sie sich womöglich als "eine Art Avantgarde, die einen Schritt weitergeht, den andere sich eben nicht trauen".

Aber was hat der CDU-Politiker Lübcke überhaupt mit Chemnitz zu tun? Diese Frage habe der psychiatrische Gutachter dem Mörder Ernst auch gestellt, sagt Steinhagen. "Stephan Ernst sagte damals, aus seiner Sicht hätte Lübcke 'diese Entwicklung' – er meinte sicherlich die Zuwanderung von Menschen – mitbefördert."

Eine falsche Logik, die viele Rechte vereinte – und die auch die AfD befeuerte, indem sie dazu aufrief, mit den Protesten in Chemnitz allen Todesopfern zu gedenken, die es angeblich ohne die Asylpolitik der damals von Bundeskanzlerin Angela Merkel geführten Regierung nicht gegeben hätte.

Rechtes Erweckungserlebnis

Von der AfD habe es damals keine Abgrenzung etwa zu Pegida, Pro Chemnitz oder der rechtsextremen Identitären Bewegung gegeben, die radikaler und militanter auftraten, sagt Steinhagen: "Für viele, die mitliefen, scheint das eine Art Erweckungserlebnis gewesen zu sein, was eine gewisse Euphorie und deswegen auch eine sehr gefährliche Dynamik ausgelöst hat."

Seitdem hat sich die AfD radikalisiert, Björn Höcke hat an Einfluss gewonnen, in Hessen bekam die Partei 18 Prozent bei der Landtagswahl.

Mit Blick auf die Landtagswahlen in Sachsen im kommenden Jahr sagt Paul, für ihn sei seit den Ereignissen in Chemnitz klar, dass die AfD keine demokratische Partei ist. "Ich glaube, dass das Gesicht, das die AfD 2018 gezeigt hat, ihr wahres Gesicht ist. Und das sollte man nicht vergessen." Am Freitag wurde bekannt, dass der sächsische Verfassungsschutz den AfD-Landesverband als "gesichert rechtsextrem" einstuft.

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Der Tod von Daniel H. und die Ausschreitungen in Chemnitz

Am Rande eines Stadtfestes in Chemnitz wurde in der Nacht zum 26. August 2018 Daniel H. bei einem Streit durch ein Messer getötet. Angeheizt von Gerüchten und Falschmeldungen in Sozialen Netzwerken marodierten Rechtsextreme tagelang in den Straßen von Chemnitz und griffen unter anderem Menschen an, die in ihrer Wahrnehmung einen Migrationshintergrund hatten. Die gewalttätigen Ausschreitungen hatten ihren Höhepunkt am 26. und 27. August sowie am 1. September, nachdem Rechte und die AfD bundesweit mobilisiert hatten. Hier gibt es eine Chronologie der Tage bei tagesschau.de.

Die Angehörigen des getöteten Daniel H. wehrten sich mehrfach gegen die politische Instrumentalisierung des Falls durch Rechtsextreme. Daniel H. habe selbst Rassismus erlebt und sich immer dagegen engagiert, äußerten sich damals Freunde.

Am 22. August 2019 wurde Alaa S. wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung gegen Daniel H. zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt.

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