Die kleine  Fatma Nur spielt im Wohncontainer ihrer Familie mit einem Handy. Das Mädchen war bei dem Erdbeben im Jahr 2023 unter den Trümmern eines Hauses verschüttet worden und konnte erst nach 56 Stunden gerettet werden.

Bei dem Jahrhundertbeben vor einem Jahr starben in der Türkei mehr als 53.000 Menschen. Der Frankfurter dpa-Fotograf Boris Roessler war wenige Tage nach der Katastrophe dort. Was er dort sah, lässt ihn bis heute nicht los. Nun ist er noch einmal hingefahren.

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Ein Jahr nach dem Jahrhundertbeben in der Türkei

hessenschau von 16:45 Uhr vom 06.02.2024
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Zuletzt haben die Behörden die Zahlen noch einmal nach oben korrigiert. Vergangenen Freitag veröffentlichte das türkische Innenministerium eine neue Bilanz des Erdbebens von vor einem Jahr. Demnach sind durch den Erdstoß am 6. Februar 2023 im Südosten des Landes 53.537 Menschen ums Leben gekommen. Zusammen mit den Todesopfern in Syrien starben an diesem Tag beinahe 60.000 Menschen. Fast 39.000 Häuser wurden zerstört.

UN-Schätzungen zufolge waren in Syrien 8,8 Millionen Menschen vom Erdbeben betroffen, in der Türkei nach offiziellen Angaben 14 Millionen Menschen. Ein Jahr nach dem Beben leben noch immer 690.000 Menschen in Containern.

Der Frankfurter Fotograf Boris Roessler fotografierte vor einem Jahr für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) in dem Katastrophengebiet und ist nun - zum Jahrestag - wieder vor Ort. hessenschau.de sprach mit ihm über das, was er dort erlebte.

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hessenschau.de: Herr Roessler, Sie waren kurz nach dem Erdbeben in dem Katastrophengebiet und nun jetzt wieder. Wie erfahren Sie im Augenblick die Situation?

Boris Roessler: Die Lage ist ganz unterschiedlich. Es gibt Orte, wo man erste Hoffnung bei den Leuten erkennen kann, die untergekommen sind in Container-Siedlungen. Wo kleine Läden in den Trümmern wieder aufgemacht, wo Menschen sich wiedergefunden haben.

Auch Jahr nach dem Erdbeben ist die Zerstörung - wie hier in der Provinz Hatay - noch allgegenwärtig.

Es gibt aber auch Menschen, die völlig verzweifelt sind, weil sie immer noch nicht wissen, wie es weitergeht. Deren finanziellen Ressourcen längst aufgebraucht sind, die keine Arbeit mehr finden, die nicht wissen, ob sie in der Gegend bleiben können und die immer noch nicht wissen, was mit ihren Familienmitgliedern passiert ist. Sie leiden darunter, dass sie sie nicht bestatten konnten.

hessenschau.de: Welchen Menschen sind Sie in den vergangenen Tagen begegnet?

Roessler: Ich habe ein kleines Mädchen kennengelernt, Fatma Nur heißt sie. Sie war 56 Stunden verschüttet, bis Rettungstrupps sie fanden. Menschen hatten der Mutter bereits ihr Beileid ausgesprochen. Nun lebt sie mit ihren Eltern in Kahramanmaras in einer Container-Siedlung. Das Mädchen ist noch immer traumatisiert. Bei jeder Erschütterung ruft sie panisch: "Mama, es gibt ein Erdbeben!"

Die 14-jährige Feride sammelt in den Trümmern abgerissener Häuser in Antakya Metall, um durch den Verkauf ein paar Lira zu verdienen.

In Antakya begegneten wir der 14-jährigen Feride, die seit dem Beben nicht mehr zur Schule geht. Ihre Familie hat durch das Beben fast alles verloren. Feride sammelt in den Trümmern abgerissener Häuser Metall, um durch den Verkauf ein paar Lira zu verdienen.

Ein Jahr nach dem Erdbeben: Am Grab ihres bei dem Beben getöteten Kindes kauert eine Frau auf einem Gräberfeld am Rande von Adiyaman in der Türkei.

Und ich war gerade auf dem Friedhof in Adiyaman, wo zum Jahrestag des Erdbebens hunderte Menschen zu den Gräbern ihrer toten Angehörigen kamen. Wir sahen eine Frau, die vor einem Grab zusammenbrach. Als wir sie später ansprachen, stellte sich heraus, dass sie am Grab ihrer eineinhalb Jahren alten Tochter kollabiert war.

Ein paar Meter weiter legte eine andere Frau einen Blumenstrauß mit einer Geburtstagskarte an das Grab ihres kleinen Kindes. Das alles lässt einen nicht kalt. Die Leute kommen auf uns zu und sagen: "Unsere Herzen sind erkaltet. Wir leben noch, aber das Leben hat keinen Sinn mehr." Das ist schon sehr beklemmend.

Ein T-Shirt hängt über einem Kindergrab auf einem Gräberfeld am Rande von Adiyaman in der Türkei.

hessenschau.de: Sie sind seit vielen Jahren für die dpa als Bildjournalist unterwegs. Wie unterscheidet sich Ihr Einsatz in der Türkei von anderen?

Roessler: Ich fotografiere alles, von Sport bis Mord. Ich mache viel Wirtschaftsfotografie, die Landespolitik, viele Polizei-Themen. Und ich gehe auch in Krisengebiete. Ich war nach dem Tsunami in Thailand, nach 9/11 in New York und nach der Flutkatastrohe im Ahrtal. Was ich in der Türkei erlebte, hat aber eine für mich neue Dimension der Zerstörung. Das hat sich für immer bei mir festgesetzt. Das war eine sehr prägende Erfahrung.

Der Fotograf Boris Roessler im türkischen Erdbebengebiet. Der Bildjournalist der dpa wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Mehrfach erhielt er den ersten Preis beim "Bild des Jahres" der dpa.

hessenschau.de: Was hat Sie besonders bewegt?

Roessler: Als Fotografen versuchen wir immer nah an die Menschen ranzukommen. Aber wir haben immer wenig Zeit, um Vertrauen aufzubauen. Ein besonderer Moment war, als ein Vater mich in das Krankenzimmer seiner zehnjährigen Tochter ließ. Das war im Krankenhaus in Adana. Wir sind in dieses Zimmer reingekommen und ich krieg heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.

Da lag Saadet. Und der Vater ließ uns über den Dolmetscher sagen. "Ihr könnt sie alles fragen, aber fragt sie nicht nach der Mutter." Das Mädchen wusste damals noch nicht, dass die Mutter in den Trümmern des Hauses umgekommen war. Da lag dieses Kind mit schwersten Verletzungen vor mir. Dieses Bild löst bei mir immer noch Beklommenheit aus.

Serkan Agri mit seiner Tochter Saadet im Krankenhaus von Adana. Die Zehnjährige war bei dem Erdbeben gemeinsam mit ihrem Bruder und ihren Eltern verschüttet worden und konnte gerettet werden.

Wir haben das Kind dann über Wochen begleitet, haben sie im April 2023 nochmal in ihrem neuen Zuhause besucht. Sie konnte noch immer nicht über das sprechen, was sie erlebte. Sie wusste natürlich inzwischen vom Tod der Mutter. Ich weiß, dass sie später in eine entfernte Provinz gezogen ist. Der Vater hoffte, dort Arbeit zu finden. Im Heimatort stand ja kein Stein mehr auf dem anderen.

Ein anderes Mal standen wir vor einem riesiges Haus, das zusammengestürzt war. Die Bergungstrupps versuchten Lebende zu finden. Da hörten wir in den Trümmern das Wimmern einer Frau. Der Feuerwehrmann sagte mir: "Ja, wir kennen den Namen der Frau, sie ist aus Istanbul und war zu Besuch hier. Aber wir kommen nicht an sie dran."

Helfer haben in Antakya einen Tunnel zu einer verschütteten Frau gegraben. Doch sie können die Frau nicht retten.

Ich war dann kurz woanders fotografieren. Als ich zurückkam, schüttelte der Feuerwehrmann mit dem Kopf. Er sagte: "Wir hören sie nicht mehr. Wir hören hier auf." Das geht einem wirklich nah. Wenn man so unmittelbar mitbekommt, dass da jemand gestorben ist. Die Rettungstrupps kamen oft nicht an die Verschütteten ran. Das war mehr als einmal sehr schwer zu ertragen.

Für uns sehr belastend war auch der allgegenwärtige Leichengeruch. Man ist über die Trümmer gelaufen und die ganze Zeit hat der Geruch des Todes einen daran erinnert, wo man eigentlich ist.

Helfer suchen in den Trümmern eines Wohnblocks nach Verschütteten.

hessenschau.de: Die Menschen haben großes Leid erfahren. Wie reagieren Sie darauf, von Ihnen angesprochen zu werden?

Roessler: Die Menschen, die wir getroffen haben, waren fast alle bereit, sich uns gegenüber zu öffnen. Es ist trotzdem immer eine fotografische und journalistische Gratwanderung, dass man die Menschen nicht ausnutzt. Wenn da ein Mensch ist, der darauf wartet, dass ein Angehöriger aus den Trümmern gezogen wird, dann muss ich mich entscheiden, ob ich ihn zeigen kann. Weiß er, dass ich da bin?

Oder aber man macht das Foto, weil es authentisch ist, weil es nicht gestellt ist, damit die Person nicht auf mich reagiert und in der Situation bleibt. Dann gehe ich im Nachgang zu dem Menschen hin und frage, ob ich das Foto benutzen kann. Dadurch, dass man dann ins Gespräch kommt, entwickelt sich ja auch erst die Geschichte hinter dem Foto.

Ich hab für mich schon vor langer Zeit beschlossen, dass man dieses Unmittelbare nicht zeigen muss. Ich muss keine Leichen zeigen, ich muss keine aufgereihten Särge zeigen, um zu zeigen, wie groß das Leid ist. Wenn ich 20 Meter weiter jemanden habe, der in den Trümmern sitzt und betet, dann zeigt das meiner Meinung nach viel besser, was passiert ist. Man braucht diesen visuellen Voyeurismus nicht. Den versuche ich zu vermeiden.

hessenschau.de: Bleiben Sie in Kontakt mit den Menschen?

Roessler: Ich bleibe tatsächlich in Kontakt mit den Menschen - wann immer es geht. Viele fragen auch, was passiert mit den Bildern? Wo erscheinen die? So kommt man an Handynummern und E-Mail-Adressen. Ich finde es gut, dass man auch danach noch im Austausch bleibt.

hessenschau.de: Gibt es inmitten all der Tragödien auch irgendetwas Positives, irgendeine Hoffnung?

Roessler: Wir haben eine Szene erlebt, wo ein Mann vor einem zerstörten Laden stand. Da war wirklich nichts mehr übrig. Er weinte. Da kam ein zweiter Mann dazu und umarmte ihn. Und er schaute diesen Mann völlig fassungslos an, weil er in diesem Moment verstand, dass dieser Mensch, den er tot in den Trümmern glaubte, noch am Leben war. Das war ein kleiner Glücksmoment. Aber so etwas passierte selten.

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Ein Jahr nach dem Erdbeben in der Grenzregion von Syrien und der Türkei am 6. Februar 2023 haben die Hilfsorganisationen im Bündnis "Aktion Deutschland Hilft" eine Bilanz ihrer Einsätze gezogen. Durch Spenden von insgesamt 83 Millionen Euro seien mehr als 113 Hilfsprojekte umgesetzt worden, unter anderem knapp 47.000 Zelte und Notunterkünfte aufgebaut und mehr als 27.770 Häuser und Wohnungen instand gesetzt worden, erklärte das Bündnis. "Aktion Deutschland Hilft" ist das 2001 gegründete Bündnis deutscher Hilfsorganisationen, die im Falle großer Katastrophen ihre Kräfte bündeln, um schnelle und effektive Hilfe zu leisten.

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