Grafik: vor einem dunkelgrünen Hintergrund links eine ältere Frau (freigestelltes Foto in Farbe), die auf ein geschwärztes Dokument schaut. Rechts hinter ihr eine Schwarz-weiß-Fotografie, welche die Frau in jungen Jahren mit ihren Eltern zeigt. Sie ist hervorgehoben, das restliche Foto ist leicht transparent und verschmilzt mit dem grünen Hintergrund.

Silvia Gingold aus Kassel zieht vors Bundesverfassungsgericht. Sie will erreichen, dass der Verfassungsschutz sie nicht weiter beobachtet. Ist die 77-jährige Ex-Lehrerin und Antifaschistin wirklich eine Gefahr für den Staat?

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Silvia Gingold – die Kasselerin zieht vor das Bundesverfassungsgericht

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Was macht es mit einem, wenn Menschen aus dem direkten Umfeld persönliche Informationen an den Staat tragen - und das womöglich jahrzehntelang? Silvia Gingold blättert durch einen prall gefüllten Aktenordner. Viele Wörter auf den Seiten sind geschwärzt. Trotzdem enthalten sie zahlreiche Informationen über ihre Person, gesammelt vom Landesamt für Verfassungsschutz Hessen (LfV Hessen).  

Die Tatsache, dass mutmaßlich Vertrauliches aus persönlichen Gesprächen, aus ihrem engsten Lebensbereich weitergegeben wurde, habe sie sehr verstört und irritiert, sagt Gingold. Trotzdem weigere sie sich, sich davon beeindrucken zu lassen und im eigenen Umfeld Misstrauen zu säen. "Ich lasse mich davon nicht einschüchtern."  

Gegen die Beobachtung durch den Verfassungsschutz und gegen die Sammlung von Daten zu ihrer Person geht Gingold seit Jahren mit juristischen Mitteln vor. Bisher ohne Erfolg.

Zuordnung zum linksextremistischen Spektrum 

An diesem Montag startete die 77-Jährige noch einen Versuch. Gemeinsam mit dem Wiesbadener Rechtsanwalt Otto Jäckel reichte sie Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (Baden-Württemberg) ein. Die Beobachtung, die "Spitzeltätigkeit in ihrem persönlichen Umfeld und Überwachung ihres E-Mail-Verkehrs" sieht auch Jäckel als "tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte". 

Silvia Gingold ist nach eigenen Angaben seit 2009 im Bereich Linksextremismus gespeichert. Das habe der Verfassungsschutz ihr auf Nachfrage bestätigt. Bereits in jungen Jahren sei sie in dessen Visier geraten - wegen Reisen in die DDR, wegen der Teilnahme an Demos, wegen ihres Engagements, so sagt sie es selbst. Sie liest bei Veranstaltungen noch heute aus dem Buch "Paris - Boulevard St. Martin No. 11", den Memoiren ihres Vaters, einem jüdischen Widerstandskämpfer, der 1933 mit seiner Familie nach Frankreich flüchtete und sich dort der Résistance anschloss. 

Ihre Eltern Peter und Ettie Gingold waren Kommunisten, wie sie selbst auch. Am Tag des KPD-Verbots habe es eine Hausdurchsuchung bei ihrer Familie gegeben, erinnert sich Gingold, "da war ich zehn Jahre alt". Der Konflikt mit dem Staat ist nichts Neues für die Rentnerin, er ziehe sich wie ein roter Faden durch ihre Familiengeschichte.   

Blick von oben: eine ältere Frau breitet viele alte Fotos vor sich aus.

Anwalt: Sie lebt das Motto "Nie wieder ist jetzt"

"Es ist nicht erkennbar, in welcher Weise sie eine Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung darstellen soll", meint Anwalt Jäckel. Gingold habe in ihrem ganzen Leben immer das gelebt, was jetzt das Motto der großen Demonstrationen auf den Straßen sei: 'Nie wieder. Das ist jetzt'. 

Mit dem Gang vors Bundesverfassungsgericht will der Anwalt für seine Mandantin erreichen, dass die Beobachtung eingestellt und die über sie gesammelten Daten gelöscht werden. Sowohl die Beobachtung durch den Verfassungsschutz als auch den gesamten Inhalt der Personenakte hält er für rechtswidrig.  

Der Verfassungsschutz ordnet Gingold auch deshalb dem linksextremistischen Spektrum zu, weil sie Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) ist. Gingolds Vater hatte die Vereinigung 1947 mitbegründet. Bis ins hohe Alter sei er einer der Bundessprecher gewesen, sagt Anwalt Jäckel. Er sieht seine Mandantin "in diese Familientradition hinein- und aufgewachsen". 

Umstrittener Verband

Die VVN-BdA ist umstritten. Auch wenn die Vereinigung neben Peter Gingold weitere, prominente Mitglieder verzeichnet: So war der ehemalige Bundeskanzler Konrad Adenauer Gründungsmitglied, Ehrenpräsidentin bis zu ihrem Tod die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano.

2018 wurde der Verband vom bayerischen Verfassungsschutz als "bundesweit größte linksextremistisch beeinflusste Organisation im Bereich des Antifaschismus" erwähnt. 2019 wurde der Vereinigung die Gemeinnützigkeit aberkannt, was jüdische Verbände und Politiker von SPD, Grünen und Linken scharf kritisierten.

In den jüngsten hessischen Verfassungsschutzberichten taucht die VVN-BdA nicht mehr auf. Dies bedeutet aber nicht, dass sie tatsächlich nicht mehr unter Beobachtung steht, wie ein Sprecher des hessischen Verfassungsschutzes gegenüber dem hr erklärte.  

Die Übersicht der Beobachtungsobjekte im jeweiligen Jahresbericht sei nicht abschließend, vielmehr hänge die Entscheidung über eine Erwähnung von "der extremistischen Bestrebung im jeweiligen Berichtsjahr ab" - und von "einer sorgfältigen Abwägung zwischen nachrichtendienstlichen und datenschutzrechtlichen Erwägungen". Zu Einzelpersonen äußere sich das LfV Hessen "aus grundsätzlichen, datenschutzrechtlichen Erwägungen" nicht , so der Sprecher.

Als Lehrerin vom Radikalenerlass betroffen

Um Datenschutz geht es auch Gingold. Sie fordert ein Ende der Beobachtung - und dass die über sie gespeicherten Daten gelöscht und vernichtet werden. "Es gibt nirgendwo einen konkreten Vorwurf, wo ich mich antidemokratisch verhalten haben soll", sagt sie. "Ich trete ein für demokratische Rechte, dass jeder auch das Recht hat, seine Meinung frei zu äußern. Nichts anderes tue ich und das tue ich im Rahmen dieser Gesellschaft.“ 

Als Lehrerin für Französisch und Gesellschaftslehre war Gingold in den 1970er Jahren vom sogenannten Radikalenerlass betroffen. Demnach sollten "Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten", aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden. Gingold wurde für ein Jahr aus dem Schuldienst entlassen und nach Protesten wieder eingestellt - allerdings nie verbeamtet.

Das empört sie bis heute - auch weil der erwiesenermaßen rechtsextreme Thüringer AfD-Chef Björn Höcke den Beamtenstatus nach wie vor innehabe: "Ein Herr Höcke, der durch seine Äußerungen, seine volksverhetzenden Reden, Rassismus und Antisemitismus schon mehrfach gegen das Grundgesetz verstoßen hat, ist nach wie vor Beamter". Höcke hatte bis 2014 an der Rhenanus-Schule in Bad Sooden-Allendorf (Werra-Meißner) unterrichtet. 

Zehn Jahre andauerndes Verfahren 

Gingolds juristischer Kampf gegen Beobachtung und Datenspeicherung dauert mittlerweile mehr als zehn Jahre. 2013 reichte sie Klage gegen den Verfassungsschutz ein, 2017 wurde diese vom Verwaltungsgericht Kassel abgewiesen. Die Richter begründeten die Beobachtung durch den Verfassungsschutz damit, dass dieser Gingolds Teilhabe "in linksextremistische Kreise und Betätigung innerhalb dieser Szene" hinreichend dokumentiert habe.   

Am 24. April 2013 etwa habe Gingold einen Vortrag zum Thema "40 Jahre Berufsverbote in der Bundesrepublik Deutschland" gehalten - bei einer Veranstaltung, zu der insgesamt 15 Organisationen aufriefen, von denen 12 linksextremistischen oder linksextremistisch beeinflussten Organisationen zuzuordnen seien.  

Dabei gehe es weniger um den Inhalt ihres Vortrags, als um den "Anlass und in welchem Umfeld dieser gehalten worden sei". Gingold nutze die "Bekanntheit ihres Namens als Tochter eines Widerstandskämpfers gegen den Nationalsozialismus" und spreche so auch Menschen an, die vorher nichts mit den Zielen von linksextremistischen Gruppierungen zu tun gehabt hätten. 

Silvia Gingold blickt auf zwei Linoldrucke, die in ihrem Arbeitszimmer an der Wand hängen. Sie zeigen ihre Eltern Peter und Ettie Gingold.

"Nichts Linksextremistisches gesagt"

Silvia Gingold hingegen sieht auch Jahre später keinen Grund, warum diese Rede eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz rechtfertigen sollte. Sie sei von der Partei "Die Linke" als Rednerin für die Veranstaltung eingeladen worden und davon ausgegangen, dass es sich bei den beteiligten Organisationen um ein Anti-Nazi-Bündnis gehandelt habe.  

"Ich hatte keinen Grund, etwas in Zweifel zu ziehen oder mich davon zu distanzieren", sagte sie gegenüber dem hr. In ihrer Rede habe sie inhaltlich nichts Linksextremistisches gesagt. Zudem werde vom Verfassungsschutz definiert, was Linksextremismus sei. "Diese Definition ist anzuzweifeln", meint Gingold. 

Ihr Antrag auf Zulassung der Berufung wurde Ende Dezember, sechs Jahre nach dem Urteil, vom Verwaltungsgerichtshof in Kassel abgelehnt. Dabei folgte der VGH der Begründung des Verwaltungsgerichts Kassel. "Wenn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jetzt auch so lange dauert, ist die Frage, ob ich das überhaupt noch erlebe", sagt Gingold. 

Historiker Rigoll: Mit Kanonen auf Spatzen schießen

Die Beobachtung Gingolds könne man nur historisch erklären, meint Dominik Rigoll. Der Historiker beschäftigt sich in Potsdam am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung mit Themen wie innerer Sicherheit und Kommunismus. Der Fall sei "ein deutscher Sonderweg beim staatlichen Umgang mit Kommunistinnen und Kommunisten im öffentlichen Dienst", der noch aus der Zeit des Kalten Kriegs stamme.  

Der Argumentation des Verfassungsschutzes kann Rigoll insofern folgen, dass Gingold "für linksextremistische Organisationen, sprich kommunistische Organisationen aktiv" ist. Die Frage sei nur, ob es die Demokratie eher gefährde, wenn der Staat "ganz offensichtlich mit Kanonen auf Spatzen schießt", wie im Fall der 77-jährigen ehemaligen Lehrerin. 

"Wenn Verfassungsschutzbehörden im Jahr 2024 nichts Besseres zu tun haben, als eine pensionierte Kommunistin so dermaßen zu beobachten, während die Bedrohungen ganz andere sind, beispielsweise Islamismus, Nationalismus und Antisemitismus, dann sehe ich da die Probleme", sagt Rigoll, "und nicht in einer Kommunistin, die aus einer jüdischen Familie kommt." 

Mit der Bewertung von Gingolds Aktivitäten wird sich jetzt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auseinandersetzen müssen.  Sollten sich die Richter für ein Ende der Beobachtung und das Löschen der Personenakte aussprechen, könnten Gingolds Daten dennoch für die Nachwelt erhalten bleiben - durch eine Überführung an das Hessische Staatsarchiv.  

Denn so, erklärt Anwalt Jäckel, könnten sich zukünftig Historiker und Soziologen damit beschäftigen, ohne dass Silvia Gingold weiter damit belastet wird. 

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