Gender Health Gap Forschungslücke Frauen

Ob Diagnosen oder Karrieren - in der Medizin gibt es noch immer große Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Ärztinnen setzen sich für geschlechtsspezifische Forschung und mehr Chefinnen ein. Ein Bericht zum Frauentag.

Von oben fotografierte Forscherin mit weißer Haube über den dunklen Haaren guckt in ein Mikroskop, daneben Petrischalen mit blauer Flüssigkeit
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Eine Frau wacht mitten in der Nacht auf. Ihr ist übel, sie fühlt sich schwach, sie spürt Druck im Oberbauch. Sie übergibt sich. Sie denkt an Magenprobleme oder Stress und schläft weiter. Aber wacht nie wieder auf. Todesursache: Herzinfarkt.

Hätte sie gewusst, dass Frauen oft andere Symptome zeigen als Männer, hätte sie vielleicht einen Krankenwagen gerufen.

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Keine gerechte Medizin für alle

Eine Ärztin zeigt auf einen Bildschirm.
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Frauen mit Herzinfarkt werden nach Erkenntnissen des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung im Schnitt 30 Minuten später in die Notaufnahme gebracht als Männer. Und das, obwohl für Frauen das Risiko, einen Herzinfarkt nicht zu überleben, laut der Europäischen Fachgesellschaft der Kardiologen höher ist als für Männer. Denn: Ihre Symptome werden oft nicht erkannt oder fehlgedeutet.

Geschlechtsspezifische Ungleichheit in Forschung

Der sogenannte Gender Health Gap beschreibt diese geschlechtsspezifische Ungleichheit in der medizinischen Forschung und Versorgung. Frauen werden oft später oder falsch diagnostiziert, weil die Medizin lange Zeit auf den männlichen Körper ausgerichtet war.

Tatsächlich erst in den 1990er Jahren forderte die US-Arzneimittelbehörde, bei klinischen Studien die möglichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu untersuchen. In Deutschland ist das sogar erst seit 2004 verpflichtend.

Wiederum 21 Jahre später scheint dieser Missstand noch immer Symptome zu zeitigen. Er geht als TikTok-Trend viral. Unter dem Satz "We've never really studied the female body" sprechen Frauen darüber, dass sie bei Arztbesuchen keine oder falsche Diagnosen bekommen. 

Viele medizinische Studien wurden jahrzehntelang fast ausschließlich mit männlichen Probanden durchgeführt, wodurch viele Medikamente und Behandlungsmethoden auf den männlichen Körper abgestimmt sind, wie die Kardiologin Lena Seegers darlegt. Dass klinische Studien mögliche Unterschiede zwischen Frauen und Männer untersuchen, ist in Deutschland eben erst seit 2004 vorgeschrieben.

Mehr Forschung für bessere Versorgung

Lena Seegers arbeitet an der Universitätsklinik Frankfurt und sieht täglich die Folgen dieser langen Ungleichbehandlung. 2023 hat sie das Womens Health Center gegründet - ein Frauenherzzentrum, das die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Herzmedizin stärker berücksichtigt.

"Frauen haben oft nicht die klassischen Symptome, sondern eine Vielzahl anderer Beschwerden, was die Diagnose erschwert", erklärt Seegers. Hinzu komme, dass Frauen gelernt hätten, Schmerzen und Unwohlsein hinzunehmen. "Zeit ihres Lebens haben Frauen gelernt, nicht auf ihren Körper zu hören. Sonst würden sie ständig zum Arzt rennen, wenn es irgendwo drückt und spannt. Frauen haben gelernt, dass es normal ist, dass der Körper hormonellen Schwankungen unterworfen ist", sagt die Klinikärztin.

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Ein strukturelles Problem

Die mangelnde Berücksichtigung von Frauen in der Medizin hat auch strukturelle Ursachen, da Frauen seltener auf Führungsebenen vertreten sind. Historisch wurde die Medizin von Männern geprägt – in Forschung, Behandlung und Entscheidungsprozessen.

Das zeigt sich bis heute in der Hierarchie der Krankenhäuser: Obwohl fast die Hälfte des medizinischen Personals weiblich ist, liegt der Frauenanteil bei Chefposten in Hessen laut Statistischem Landesamt bei nur 18,4 Prozent. In der Chirurgie sind es nur fünf Prozent.

Netzwerk für mehr Frauen in Chirurgie

Katja Schlosser ist Chefärztin am Agaplesion Krankenhaus in Gießen und kennt diese Herausforderungen. 2021 gründete sie den Verein Die Chirurginnen, ein Netzwerk, in dem erfahrene Chirurginnen Nachwuchsmedizinerinnen unterstützen.

"Der Verein bringt die Role Models, die vielleicht in der eigenen Klinik noch nicht vorhanden sind, mit den Jüngsten zusammen und zeigt ihnen, welche verschiedenen Berufsweg es geben kann", sagt Schlosser: "Dadurch motivieren sie sich gegenseitig und stärken sich." Der Verein ist in ganz Deutschland aktiv und richtet sich an alle Frauen, die operativ arbeiten.

Eine Medizin, die Frauen mitdenkt

Seit seiner Gründung zählt der Verein über 3.000 Mitglieder - ein Zeichen für die zunehmende Beteiligung von Frauen in der Medizin. Zwar gibt es noch keine konkreten Zahlen zu leitenden Chirurginnen, berichtet Katja Schlosser. Doch steige die Zahl der Frauen, die in Berufsverbände wie den Marburger Bund einträten. 

Auch das Frauenherzzentrum in Frankfurt verzeichnet Fortschritte. "Das interdisziplinäre Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterschiede hat sich deutlich verbessert", berichtet Lena Seegers.

So werden in der Notaufnahme der Uniklinik Frankfurt nun gezielt nach den typischen Symptomen bei Frauen gefragt. Ein EKG gehört jetzt standardmäßig auch bei weiblichen Patientinnen zur Untersuchung. Langfristig plant das Frauenherzzentrum, mit anderen Kliniken zusammenzuarbeiten, damit auch diese von ihrem Wissen profitieren. Ziel: eine bessere Gesundheitsversorgung von Frauen.

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de