Foto: Blick durch eine Tür. Eine Intensivpflegerin in Schutzkleidung mit Schutzmaske und -brille arbeitet an einem Patienten, der mit Schläuchen und Monitoren verbunden ist.

Der Pflegenotstand wird sich in den kommenden Jahren verschärfen und hat gefährliche Nebenwirkungen für Patienten und Pflegebedürftige. Die Landesregierung steht vor großen Herausforderungen. Menschen aus der Praxis warnen vor einem Kollaps des Pflegesystems.

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Was der Pflegenotstand in der Praxis bedeutet

Zwei Pflegerinnen schieben Patienten in Rollstühlen über den Flur eines Krankenhauses.
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Zwei Dinge sind im Leben sicher: Dass man am Ende stirbt und dass man sehr wahrscheinlich vorher irgendwann auf Pflege in einer Klinik, zu Hause oder in einer Einrichtung angewiesen ist.

Weil die Gesellschaft älter wird, es aber jetzt schon überall an Pflegekräften fehlt, spitzt sich der Pflegenotstand zu - mit gravierenden Nebenwirkungen. Denn gute und menschenwürdige Pflege braucht ausreichend Zeit und Personal. Die künftige Landesregierung wird Lösungen finden müssen, die Zeit drängt.

"Ich hätte auf keinen Fall 40 Jahre durchgehalten"

Mark Müller hätte eine der Pflegekräfte sein können, die in den kommenden Jahren Personallücken füllen: Er ist 28 Jahre alt und arbeitet seit zehn Jahren in der Branche. Er ist Intensivpfleger an der Uniklinik Marburg-Gießen, hat die Corona-Zeit durchgestanden und hat sich mittlerweile dagegen entschieden, den Rest seines Lebens so zu arbeiten wie bisher. "Ich hätte auf gar keinen Fall durchgehalten, den Job 30 oder 40 Jahre lang zu machen", sagt er.

Immer wieder sei er an seine Belastungsgrenze gekommen, sei ausgebrannt gewesen. Es fehle an Zeit für Patienten und für zentrale Aufgaben der Pflege. Den Tag über sei er nur damit beschäftigt, Feuer zu löschen, sagt Müller: "Wir können unsere Arbeit nicht mehr so durchführen, wie wir das eigentlich gelernt haben."

Um aus der Mühle auszubrechen, hat Müller angefangen, Medizin zu studieren. Inzwischen arbeitet er nur noch nebenbei zehn Stunden als Pfleger auf der Intensivstation.

Pflegekräfte in allen Bereichen gesucht

Dabei braucht es dringend gut qualifizierten Nachwuchs wie Müller in der Pflege: Die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten Baby-Boomer-Generation, geboren in den 1950er und 1960er Jahren, kommen in die Rente - und werden irgendwann auf Pflege angewiesen sein.

Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt damit kontinuierlich. Es braucht also deutlich mehr Pflegekräfte in den kommenden Jahren, wie Prognosen wie der Hessische Pflegemonitor zeigen. Gleichzeitig wirkt sich die Personalnot jetzt schon deutlich aus: Einrichtungen schließen, Heimplätze fehlen.

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Bis 2040 werden dem Hessischen Pflegemonitor zufolge rund 84 Prozent der Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen in die Rente verabschiedet, rund 70 Prozent der Fachkräfte in der Altenpflege - gemessen am Stand der Beschäftigten im Jahr 2019. Sie müssen ersetzt werden.

Druck durch Wirtschaftlichkeit

Mark Müller engagiert sich auch in der Gewerkschaft. Fragt man ihn, wo in der Pflege Verbesserungen nötig seien, fallen ihm eine Reihe von Baustellen ein: Der Fokus auf Wirtschaftlichkeit in Kliniken habe die Schlagzahl und den Druck in der Branche in den vergangenen Jahren zunehmend erhöht, sagt er.

Der Fachkräftemangel in der Pflege sei auch nicht allein durch Kräfte aus dem Inland zu lösen, sagt Müller. Er kritisiert aber auch das Anwerben von Kräften aus dem Ausland als "teils eine Art Kolonialismus 2.0" und als nicht gut durchdacht.

Viele Arbeitskräfte aus dem Ausland würden vor Ort schlecht integriert, seien mitunter auch nach Monaten nicht voll einsatzfähig und in den Teams nicht gut angekommen. Manche gingen dann zurück, so ist Müllers Erfahrung.

In der Not zahlen Kliniken Boni

In Hessen gibt es ein Pflegequalifizierungszentrum (PQZ), das 2021 im Auftrag des Sozialministeriums die Arbeit aufnahm. Es soll ausländische Pflegekräfte anwerben, sie fit machen für einen Job in Hessen und bei der Integration helfen. In den ersten zwei Jahren seien 100 Pflegekräfte in eine Beschäftigung gekommen durch die Vermittlung, heißt es vom PQZ.

Für Müller ist klar, dass es nicht reicht, auf Hilfe aus dem Ausland zu hoffen: "Wenn wir nur die Hälfte dieses Aufwandes in die Ausbildung und Weiterbildung von Pflegekräften investieren würden, könnten wir zumindest ein Teil des Problems besser lösen." Wenn die Ausbildung attraktiver würde, den Pflegekräften mehr Verantwortung gegeben würde und die Bedingungen im Beruf sich verbesserten, würden auch mehr junge Menschen Pflegekraft werden - und nicht nach kurzer Zeit wieder aus dem Beruf flüchten, glaubt Müller.

Der aktuelle Versuch von Kliniken, Lücken im Dienstplan mit extra Bezahlung zu retten, werde hingegen langfristig nicht helfen, ist Mark Müller überzeugt: "Selbst das stößt an seine Grenzen, weil die meisten Pflegekräfte nicht bereit sind, für mehr Geld noch mehr zu arbeiten. Das ist nicht das, was uns bewegt."

"Wir steuern auf einen Kollaps zu"

Die SPD-Politikerin Susanne Simmler ist die Sozialdezernentin des Main-Kinzig-Kreises und damit die Aufsichtsatsvorsitzende von 13 kommunalen Pflegeheimen im Kreis. Wie angespannt die Situation für Pflegebedürftige ist, weiß sie auch, weil verzweifelte Menschen ihr schreiben. "Wir hatten hier schon Briefe, in denen stand: Am liebsten möchte ich mich umbringen", berichtet sie.

Es kämen E-Mails und Briefe von Menschen, die in Einrichtungen leben, von pflegenden Angehörigen, manchmal sogar von Nachbarn, die andere unterstützen. In absoluten Notfällen versuche sie, direkt zu helfen, sagt Simmler.

Vor allem aber ist sie eine Kritikerin des aktuellen Systems. Simmler ist sicher: Es läuft nicht nur vieles verkehrt, die Situation ist gefährlich. Und sie gehe jeden etwas an, und jeder könnte das auch wissen.

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Dabei geht Simmler auch nicht zimperlich mit ihrer eigenen Partei um. Im Mai schickte sie einen Brandbrief an zwei SPD-Parteikollegen: an Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. "So wie bisher können wir nicht weitermachen! Das System der Pflege von heute ist nicht zukunftsfähig!", schrieb Simmler, und: "Wie steuern auf einen Kollaps zu."

Sie fordert ein Sondervermögen für die Kranken- und Altenpflege, um Insolvenzen zu verhindern, dazu eine steuerfinanzierte Pflegeversicherung und ein Verbot von Zeitarbeitsfirmen. Es sei nicht würdig, wenn Pflegebedürftige nur "satt, sauber und still" sein sollen, findet die SPD-Politikerin.

Zeitarbeit demotiviert Festangestellte

Es war nicht der erste Brief, den Susanne Simmler nach Berlin und an die Zuständigen auf Landesebene schickte. Genau genommen drohe der Kollaps nicht nur, er sei an vielen Stellen schon eingetreten, sagt die Sozialdezernentin. Seit zehn Jahren werde über das Problem Pflegenotstand viel geredet, aber das ändere nichts: "Wir reden über eine nicht ausreichende Finanzierung, über Strukturprobleme. Alles, was da an Veränderungen war, das ist immer nur Flick-Schusterei."

Dass Pflegepersonal fehlt, bedeute in der Praxis, dass die Wartelisten für Pflegeplätze voll seien, erläutert Simmler. Und dass es immer mehr Zeitarbeit gebe, die teuer sei und Festangestellte demotiviere - weil Zeitarbeiter gut verdienen und sich ihre Arbeitszeiten aussuchen können. Der Rest des Personals muss dann die Lücken füllen. Gleichzeitig funktioniere die Finanzierung bei Einrichtungen nicht, kritisiert Simmler - immer mehr landen in der Insolvenz.

Pflege gehöre in staatliche Hände und nicht in die Verantwortung von Investoren, sagt Simmler. Dass der Markt das Pflegesystem schon irgendwie regele, habe sich nicht bewahrheitet.

80 Prozent werden zu Hause gepflegt

Auch der Sozialverband VdK Hessen-Thüringen stellt dem aktuellen Pflegesystem ein schlechtes Zeugnis aus. 80 Prozent der Menschen werden in Hessen zu Hause gepflegt. Für diese Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen sei die Situation "wahnsinnig schwierig", sagt VdK-Sprecher Philipp Stielow. Von der Politik würden viele allein gelassen.

"Die Pflege zu Hause ist so ein bisschen das Stiefkind der Politik", sagt Stielow: "Am Ende führt es dann oft dazu, dass nicht nur die oder der Pflegebedürftige unter Druck steht, sondern auch, dass die Angehörigen am Ende oft selbst an dieser Situation erkranken."

Sozialverband: "Schleichender Verfall"

Der VdK fordert Unterstützung für Pflegebedürftige und Angehörige zu Hause: etwa eine Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige, ähnlich wie das Elternzeitgeld. Denn wer 24 Stunden lang jemanden pflege, könne kaum nebenbei noch arbeiten. Der Sozialverband spricht sich für eine Vollkasko-Pflegeversicherung aus, die verhindere, dass Menschen hohe Zuzahlungen erbringen müssten, die sie sich irgendwann nicht mehr leisten können.

Er beobachte in der Pflege einen "schleichenden Kollaps, einen schleichenden Verfall", sagt Stielow. Die Politik sei gefragt, aber bisher passiere zu wenig - auch auf Landesebene, kritisiert er: "Dabei wäre es eigentlich ein Grundauftrag, in einem Sozialstaat alle Pflegebedürftigen menschenwürdig zu versorgen." Der VdK-Sprecher sagt, sein Verband "habe große Befürchtungen, dass dieser Grundauftrag schon in naher Zukunft an seine Grenzen stößt".

Das fordern die Parteien in ihren Wahlprogrammen zum Thema Pflege:

  • eine "Denkfabrik Pflege" gründen, ein Landespflegegeld einführen, den flächendeckenden Ausbau von Gemeindepflegern und präventive Hausbesuche fördern, mehr Plätze in der Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflege, ein Anrecht auf Reha-Maßnahmen für pflegende Angehörige;
  • gegen den Pflegekräftemangel: Studien- und Ausbildungsplätze ausbauen, das Schulgeld abschaffen und die Ausbildung angemessen vergüten, Förderprogramme zur Qualifizierung und ausländische Abschlüsse besser anerkennen, eine Task Force Pflegepersonal einrichten, das Programm "Pflege integriert" für Geflüchtete aus der Ukraine öffnen;
  • eine Initiative zur Verbesserung der Ausstattung von Alten- und Pflegeheimen.
  • gegen den Fachkräftemangel: mehr Studien- und Ausbildungsplätze für Gesundheitsberufe, Helferkurse besser finanzieren, Förderprogramme und Stipendien für Lehrkräfte, Tarifsteigerungen komplett finanzieren;
  • einen Landespflegeplan zur Entlastung von Pflegekräften entwickeln: interprofessionelle Zusammenarbeit, Digitalisierung/Entbürokratisierung und technische Assistenz sowie Pflege präventiv vermeiden, indem mobilisierende und rehabilitative Pflege gefördert wird;
  • ambulante Pflege, Tages- und Kurzzeitpflege sowie Pflegestützpunkte flächendeckend ausbauen.
  • stationäre und ambulante Angebote ausbauen, mehr Unterstützung für pflegende Angehörige sowie ambulante Wohngemeinschaften, die Entwicklung einer "Demenzstategie", um die demografische Entwicklung aufzufangen;
  • eine Fachkräfteoffensive zur Personalgewinnung und - ausbildung, vereinfachten Zugang zu den Berufen durch Quereinsteiger- und Qualifizierungsprogramme, schnellere Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen, ein Programm zur Qualifizierung und Gewinnung von Kräften aus dem Ausland;
  • mehr Aus-, Fort- und Weiterbildung in Teilzeitmodellen;
  • die Einrichtung einer Landespflegekammer nach dem Vorbild von Rheinland-Pfalz.
  • den Aufbau regionaler Gesundheitsversorgungszentren, inklusive Apotheken, Physiotherapie und ambulanter Pflege;
  • gegen den Fachkräftemangel: mehr Bürokratieabbau, Sofortmaßnahmen für eine Aus- und Weiterbildungsoffensive, Anreize für eine Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit, ein Wiedereinstiegsprogramm, Weiterqualifizierungsmaßnahmen;
  • mindestens eine 105-prozentige Quote an Personal in Pflegeeinrichtungen;
  • Programme unterstützen, die Geflüchtete in den Pflegeberuf bringen.
  • Pflegepersonaluntergrenzen dringend einhalten, 24-Stunden-Bereitschaftsdienste abschaffen, gezielt qualifizierte Personen anwerben;
  • keine Privatisierung von Krankenhäusern, sondern bedarfsgerechte Finanzierung, einen Abbau des Investitionsstaus, Entlastungstarifverträge für alle Kliniken in kommunaler Trägerschaft analog zu Unikliniken.
  • den Ausbau der Pflegestützpunkte, ein Landesinvestitionsprogramm für Kurzzeit- und Tagespflege, einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag in der Pflege, eine gesetzlich verankerte Personalbemessung;
  • eine 30-Stunden-Woche für Pflegekräfte bei vollem Lohn- und Personalausgleich, Nachqualifizierung für Leih- und Zeitarbeiter, Pflegekräfte durch weniger Bürokratie, mehr Zeit für tatsächliche Pflege und bessere Löhne zurückgewinnen;
  • eine "Demenzstrategie" für Hessen: Beratungsangebote insbesondere für pflegende Angehörige verbessern, Investitionspaket für den Um- und Ausbau stationärer Einrichtungen, alternative Wohngruppen fördern;
  • flächendeckend kommunale oder genossenschaftliche ambulante Gesundheitszentren in Verbindung mit Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten. 
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