Trauriger Trend Warum immer mehr Menschen einsam sterben

Keine Familie, kein Grabstein, kein Name: Immer mehr Menschen sterben, ohne dass Angehörige sich um ihre Bestattung kümmern können. Das übernimmt das Ordnungsamt. In Kassel hat jetzt erstmalig eine Gedenkfeier für einsam Verstorbene stattgefunden.

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Name und Alter von insgesamt 60 Menschen, darunter ein Neugeborenes und ein 91-Jähriger, werden am Samstag im Kasseler Museum für Sepulkralkultur verlesen. Sie alle haben eins gemeinsam: Sie sind im Jahr 2022 gestorben. Allein und ohne Angehörige.

Zum ersten Mal hat am Samstag in Kassel auf Initiative des Heilhauses, der evangelischen Kirche sowie des Museums eine Gedenkveranstaltung für einsam Verstorbene stattgefunden, also für Menschen, die zum Zeitpunkt ihres Todes keine Angehörigen mehr hatten - oder um die sich niemand mehr kümmern wollte oder konnte.

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Was bleibt von einem Menschen, wenn nicht einmal der Name sichtbar ist? Zitat von Dirk Pörschmann
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Die Stadt Kassel unterstützt die Initiative. In den kommenden Jahren sollen weitere Veranstaltungen an unterschiedlichen Orten organisiert und so zur Regelmäßigkeit werden.

60 Kerzen für 60 Menschen

60 Kerzen, in Form einer Spirale aufgestellt, sollten bei der Veranstaltung die 60 Verstorbenen symbolisieren. Dazu sollte eine einzelne Kerze kommen für die, die man nicht kenne, erklärt Dirk Pörschmann, Leiter des Museums für Sepulkralkultur. Dass die Namen der Verstorbenen vorgelesen werden, sei wichtig. "Denn was bleibt von einem Menschen, wenn nicht einmal der Name sichtbar ist?"

Die Spirale sollte ihren Platz in der Mitte des Raumes finden, umrundet von Stühlen der Besucherinnen und Besucher. Man wolle, so Pörschmann, mit dieser Anordnung "die Nicht-Gesehenen in unsere Mitte holen".

Drei Wochen tot - keiner merkt's

Wer sind die Menschen, die niemanden mehr haben, der sich um ihre Bestattung kümmert? Menschen ohne Familienanschluss, erklärt Dirk Stoll, Pfarrer für Bestattungskultur im Stadtkirchenkreis Kassel. Es seien meist Hochbetagte oder "welche, die im Laufe ihres Lebens hier in Kassel gestrandet sind", meist nach einer Scheidung.

Der Großteil sei über 60 Jahre alt, dazu männlich. Bei den Männern führte vor allem fehlende kommunikative Fähigkeit dazu, dass man nicht mehr im Kontakt mit anderen sei, sagt Pörschmann.

Pfarrer Stoll begleitet diese Verstorbenen auf ihrem letzten Weg, wenn sie auf dem Hauptfriedhof anonym beerdigt werden. Ihre Geschichten gehen ihm immer wieder nahe. Wie bei dem Mann, der erst nach Wochen in seiner Wohnung gefunden wurde und dessen Todesdatum in einem Zeitraum von mehr als drei Wochen gelegen habe. "Es war keinem aufgefallen, dass er nicht mehr auftauchte", erinnert sich Stoll.

Anteil der einsam Verstorbenen steigt

Der Pfarrer sieht einen traurigen Trend: Weil Familien immer weiter auseinandergezogen und die Scheidungsraten hoch sind, sterben seiner Erfahrung nach immer mehr Menschen in Einsamkeit. Wenn sie keine weiteren Angehörigen haben, werden sie meist anonym beerdigt. Die Ordnungsämter kümmern sich um ihren letzten Weg.

Die meisten Ordnungsamtsbestattungen werden in Berlin angeordnet, in der Hauptstadt werden so über 2.000 Menschen jährlich beigesetzt. Sie machten zuletzt sieben Prozent an den gesamten Verstorbenen aus, erklärt Pörschmann.

Diese Entwicklung hält er für besorgniserregend. Als Grund dafür nennt er die steigende Individualisierung weg vom Kollektiv. Diese führe häufig zu einer Vereinsamung. Vor allem bei denen, die zu arm seien, um am Miteinander teilzuhaben. Pörschmann hält das für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, "der wir uns dringend annehmen müssen".

Weitere Informationen

Was ist eine Ordnungsamtsbestattung?

Haben Verstorbene keine Angehörigen oder sind diese nicht in der Lage, die Beerdigung zu bezahlen, wird eine Bestattung im Rahmen des Ordnungsrechts notwendig. Sie wird von Amts wegen angeordnet, dabei gehen die Kosten zu Lasten der Kommune. Gibt es einen Nachlass des Verstorbenen, werden Ansprüche geltend gemacht und die Bestattungskosten daraus ganz oder teilweise getragen. Wünsche von Verstorbenen, beispielsweise nach einer Erdbestattung, werden berücksichtigt.

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Ein weiterer Grund sind die gestiegenen Beerdigungskosten. Von 1911 bis Ende 2003 hatten die gesetzlichen Krankenkassen ein Sterbegeld bezahlt. Seit dem Wegfall ist es für viele Angehörige schwieriger, für eine Beerdigung aufzukommen. Dazu steigen die Bestattungsgebühren stetig an. In Frankfurt zuletzt um weitere zwölf Prozent, nachdem sie erst 2020 um 30 Prozent gestiegen waren. In Fulda, Büdingen (Wetterau) und Büttelborn (Groß-Gerau) hatten sie sich kürzlich fast verdoppelt.

Zahl der Ordnungsamtsbestattungen wächst

Aufgrund der niedrigeren Kosten wählen die meisten Kommunen eine Feuerbestattung mit anonymer Beisetzung. Wie viele solcher Beisetzungen in Hessen pro Jahr stattfinden, ist statistisch nicht zentral erfasst. Allein in Kassel waren es der Stadt zufolge in den vergangenen fünf Jahren durchschnittlich etwa 50 pro Jahr. 2022 waren es 60.

Eine hr-Umfrage unter den zehn größten hessischen Städten zeigt bei fünf Städten einen Anstieg im Vergleich zu den fünf Vorjahren. So melden Wiesbaden, Kassel, Darmstadt, Gießen und Fulda mehr Bestattungen von Amts wegen, wobei in Wiesbaden lediglich die Zahlen von 2020, 2021 und 2022 vorliegen.

Betrachtet man das Jahr 2022, steht Frankfurt mit 341 Bestattungen im Jahr an der Spitze, gefolgt von Wiesbaden (116), Hanau (71) und Kassel (60).

Sprecher aus Darmstadt und Gießen wiesen im Zuge der hr-Recherche explizit darauf hin, dass man eine steigende Tendenz erkennen könne. In Wiesbaden zeigt sich nach 85 und 87 Fällen in den Jahren 2020 und 2021 für 2022 ein Anstieg auf 116 Fälle.

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Museumsleiter Pörschmann wundert es nicht, dass vor allem Großstädte betroffen sind. Die Anonymität trage dazu bei, dass das Problem dort deutlich größer sei, aber auch in kleineren Städten steige der Anteil. Erst 2022 hatte die evangelische Kirche darauf aufmerksam gemacht, dass Beerdigungen ohne Angehörige immer häufiger seien.

Beisetzung meist auf Urnengräbern

Ob die Grabstätte mit den Namen der Verstorbenen gekennzeichnet wird, handhaben die Städte unterschiedlich. So werden in Fulda die Verstorbenen auf dem Zentralfriedhof in Urnengräbern anonym bestattet. In Offenbach werden Menschen, bei denen der letzte Wille oder religiöse Anschauungen unbekannt sind, feuerbestattet und in einem teilanonymen Urnengemeinschaftsgrab beigesetzt.

In Darmstadt handelt es sich hingegen um keine anonyme Beisetzung, da jederzeit die Grabstelle durch den Friedhof benannt werden könne.

In Wiesbaden werden einer Sprecherin zufolge Verstorbene, bei denen keine Angehörigen vorhanden seien, in einem Urnenreihengrab auf dem Südfriedhof Wiesbaden beigesetzt. Dort werde zudem ein Holzkreuz aufgestellt. In Rüsselsheim werden zugereiste Personen nach Einäscherung in einem anonymen Gemeinschaftsgrabfeld in Obertshausen bestattet.

In Frankfurt betonte ein Sprecher, man stehe darüber hinaus in Kontakt mit der jüdischen Gemeinde und auch islamischen Instituten, die aufgrund von Glaubensvorgaben die Beisetzungen schneller durchführen (müssen) und andere Totenrituale, z. B. Waschungen, pflegen.

Nur wenige Veranstaltungen für einsam Verstorbene in Hessen

Mit der Feier im Museum ist Kassel eine der wenigen Städte in Hessen, die Menschen, die von Amts wegen bestattet werden, auf diese Art gedenken. Zusätzlich können Menschen an jedem dritten Mittwoch im Monat bei der Urnenbestattung des Ordnungsamtes dabei sein. Pfarrer Stoll hält eine Ansprache, bevor die Urnen einzeln unter Namensnennung, Alter, Geburtsdatum und Herkunft beigesetzt werden.

Ähnlich verfährt man auch in Hanau. Dazu werde an einer Stele ein Namensschild mit den Daten des Verstorbenen angebracht.

In Darmstadt findet jährlich ein Gottesdienst für verstorbene Obdachlose statt, der von der Diakonie ausgerichtet wird. Dazu gebe es am Darmstädter Waldfriedhof einen Gedenkstein, an dem Obdachlosen und Menschen ohne Angehörige gedacht werden könne, so ein Sprecher der Stadt.

In Gießen unterstützt man Freunde, Bekannte oder Kollegen bei der Suche nach einem Geistlichen, eine zentrale Gedenkfeier gibt es hier nicht. So auch in den meisten anderen hessischen Städten, die der hr angefragt hat.

Ein Stück Würde

Die Initiatoren in Kassel wollen den Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, ein Stück Würde geben und sie im Rahmen der Veranstaltung in den Kreis der Gesellschaft zurückholen.

Museumsleiter Pörschmann hofft, dass sich weitere Städte von diesem Auftakt inspirieren lassen. Denn die Gedenkveranstaltung sei ein Signal an die Menschen, die alleine seien. Sie zeige, "dass diese Menschen nicht vergessen sind".

Weitere Informationen

Sendung: hr-info, 28.04.2023, 10.52 Uhr

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Quelle: Jens Wellhöner, hessenschau.de, dpa/lhe