Ehemalige "Verschickungskinder" erzählen "Weinen half nichts, da gab's direkt eine Strafe"

Essenszwang, Toilettenverbote, Demütigungen – in der Nachkriegszeit verordnete Kuren zur Erholung wurden für viele "Verschickungskinder" zum blanken Horror. Vier Betroffene berichten von ihren Erlebnissen.

Schlafsaal in einem "Kinderverschickungsheim".
Schlafsaal in einem "Kinderverschickungsheim". Bild © Archiv Caritasverband
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Ein bisschen dünn sei sie gewesen. Auch von einem krummen Rücken sei die Rede gewesen, erinnert sich Dagmar Klinge. Der Arzt habe die damals Sechsjährige für eine Kur in Bad Karlshafen (Kassel) vorgeschlagen. Was sie in dem Heim erwartete, wurde zu einer Tortur. 

Viele andere "Verschickungskinder" teilen dieses Schicksal, wie kürzlich etwa eine Studie der Caritas zur Kinderheilstätte St. Josef in Bad Nauheim (Wetterau) und in Allerheiligen im Schwarzwald zeigte.

Nach unserer Berichterstattung haben sich ehemalige "Verschickungskinder" beim hr gemeldet, die aus Hessen kommen oder in hessischen "Verschickungsheimen" untergebracht waren und Ähnliches erlebt haben. Sie wurden Opfer der in den Heimen praktizierten "schwarzen Pädagogik", die sich durch harte Strafen, Demütigungen und Disziplinierungen auszeichnete.  

"Kinderverschickungen" waren im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre ein gängiges Phänomen. "Verschickungskuren" wurden vorrangig durch die großen Wohlfahrtsverbände organisiert und getragen, darunter das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die Caritas sowie die Innere Mission. Auch Städte und Kommunen organisierten entsprechende "Heilaufenthalte" für Kinder. Die Studie der Caritas zeigt: Allein in der Kinderheilstätte in Bad Nauheim waren im Laufe der Jahre rund 15.000 Kinder untergebracht. Dennoch berichten Betroffene, dass sie sich mit dem Erlebten lang allein fühlten. Für Aufklärung und Vernetzung sorgt unter anderem die "Initiative Verschickungskinder". Auf der Website des Vereins sind zahlreiche Erfahrungsberichte aus ganz Deutschland zu finden, auch aus Hessen.  

hessenschau.de hat mit vier von ihnen gesprochen: Martina, Dagmar, Marianne und Karl. Das sind ihre Geschichten

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Die Gespräche führten Marit Tesar und Anna Lisa Lüft.

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Martina Reinhardt, 59 Jahre alt, aus Hochheim, "Verschickungskind" in St. Peter-Ording 

"Ich war elf Jahre alt und meine Schwester war 13 Jahre alt, als wir 1976 über die Sommerferien für sechs Wochen an die Nordsee nach Sankt Peter-Ording geschickt wurden. Das haben damals viele Eltern gemacht. Wir waren nicht krank, auch die anderen Kinder dort waren gesund. Ich war etwas übergewichtig, sie haben mich dort auf Diät gesetzt.  

Schon der zweite Tag war sehr gruselig: Wir mussten uns bis auf die Unterhose ausziehen. Ein Arzt kam und hat uns in die Hose geguckt. Das war äußerst unangenehm. Das kleinste Mädchen war, glaube ich, vier Jahre alt, die älteste war 14 Jahre alt. 

Wir mussten uns immer nackt ausziehen und einseifen und sie haben uns mit einem Schlauch abgespritzt. Wie in einem amerikanischen Film, wo das vielleicht im Gefängnis so ist.  

Es gab drei oder vier weibliche Betreuerinnen, die wir 'Tanten' nennen mussten, und einen männlichen Betreuer. Der war zwischen 35 und 40 Jahren alt und hat die älteren Mädchen, die schon etwas weiter entwickelt waren, beim Schwimmen mehrfach begrapscht. 

Zu essen gab es ganz viele Dinge, die ich eklig fand. Am schlimmsten waren die Brote morgens und abends. Die für das Frühstück wurden abends schon geschmiert, da waren am nächsten Tag manchmal riesige Fliegen oder Spinnen drauf. Die Betreuer haben sie runtergekratzt und uns die Brote vorgesetzt. Wenn wir das gesehen und das Essen verweigert haben, sind sie mit den Broten an einen anderen Tisch, an dem die Kinder das nicht gesehen hatten. Und da wir immer Hunger hatten, war man froh, wenn man etwas zu essen hatte. Ich habe oft noch allein am Tisch gesessen, weil ich das, was es gab, nicht essen wollte. 

Speisesaal in einem "Kinderverschickungsheim".
Speisesaal in einem "Kinderverschickungsheim". Bild © Archiv Caritasverband

Hinterher haben wir unseren Eltern erzählt, was da passiert ist. Freiwillig wäre ich dort nicht mehr hin. Das war wie ein gesetzloser Raum. Als meine Eltern sich erkundigt haben, haben sie erfahren, dass ganz viele Kinder schlimme Erfahrungen gemacht haben. Das Haus wurde schließlich geschlossen.

Ich möchte nicht wissen, was vielleicht noch so passiert ist, das man gar nicht mitgekriegt hat. Es war sehr, sehr übergriffig. Ich sage es mal ganz krass: Für jeden Pädophilen war das wie Weihnachten und Ostern zusammen. Man war hilflos, man konnte nicht zu einem Erwachsenen gehen und sagen: Guck‘ mal, was die da machen. Die waren ja eine Einheit, die gegen uns stand. Das waren sechs lange Wochen." [zurück]

Dagmar Klinge aus Rheine (NRW), 59 Jahre, "Verschickungskind" in Bad Karlshafen (Kassel)

"Ich wurde kurz vor meiner Einschulung von meinem Hausarzt für eine Kur in Bad Karlshafen vorgeschlagen. Es war von einem krummen Rücken die Rede und dass ich zu dünn sei. Ich kann mich erinnern, dass ich panische Angst hatte, allein von zu Hause weg zu müssen. Meine Eltern haben mir nochmal gut zugeredet: 'Du darfst in den Urlaub, wir müssen hierbleiben.' Und ich weiß noch, dass ich das am Bahnhof genauso empfunden habe – dass ich in den Urlaub darf. 

Ich hatte ein paar persönliche Dinge dabei, darunter meine heiß geliebte Puppe. Die wurde gleich einkassiert. Ich war so traurig, habe geweint und gebettelt, dass ich diese Puppe behalten darf, aber die Betreuerinnen dort waren hart und unerbittlich. Wir nannten sie 'Tanten'. Das hört sich erst mal schön an. Im Nachhinein hat dieses Wort aber eine ganz grausige Bedeutung bekommen.  

Kinder in Verschickungsheim mit Tante
Eine Kinderheilstätte in Westdeutschland im Jahr 1954. Die Betreuerinnen wurden "Tanten" genannt. Bild © picture-alliance/dpa

Weinen half überhaupt nichts. Da gab es gleich eine Strafe. Generell wurde so ziemlich alles bestraft, was den 'Tanten' nicht passte. Die Strafe war meistens, mit dem Gesicht zur Wand stehen zu müssen. Und zwar nicht nur zehn Minuten, sondern manchmal eineinhalb bis zwei oder drei Stunden. Oder man wurde in den Waschraum oder in einen anderen dunklen Raum eingesperrt – manchmal sogar die ganze Nacht. Ich habe ziemlich schnell gelernt, bloß nicht aufzufallen und alles zu machen, was gesagt wurde.  

Ich habe auch das schreckliche Essen gegessen, weil ich nicht wollte, dass es mir wie anderen Kindern erging. Die haben ihr Essen erbrochen und mussten das Erbrochene wieder aufessen. Dabei wurden sie vor allen anderen lächerlich gemacht. Man musste mit den Kindern am Tisch sitzen bleiben, bis sie fertig waren. Ich fand das einfach nur furchtbar. 

Mein schrecklichstes Erlebnis dort war, als ich nachts einmal dringend zur Toilette musste. Groß. Aber das war strikt verboten. Vor lauter Not habe ich angefangen zu weinen. Ich wurde zur Strafe in den Waschraum gesperrt, in dem es natürlich keine Toilette gab. Und es kam, wie es kommen musste: Ich habe mir in die Hose gemacht. Am nächsten Morgen wurde mir von den 'Tanten' dann vor allen Kindern der Hintern sauber gemacht mit den Worten: 'Guckt euch diese Kack-Marie an.' Diese Demütigung werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen. 

Ich hatte wirklich Angst, ich würde meine Familie und mein Zuhause niemals wiedersehen. Aber irgendwann kam doch der Tag der Abreise. Meine Eltern standen am Bahnhof und haben mich abgeholt. Sie fragten mich, wie es gewesen sei. Und ich konnte nicht mehr sprechen. Das nehme ich meinen Eltern bis heute noch krumm. Ich habe drei Wochen nicht gesprochen und niemand hat es wirklich hinterfragt, ganz im Gegenteil. Ich kann mich noch an dieses hämische Lachen meines Vaters erinnern: 'Ach, vor lauter Heimweh kann sie jetzt nicht mehr sprechen.'  

Ärzte waren damals 'Götter in Weiß', Kinder hatten keine Lobby. Also wurde ich gar nicht ernst genommen. Das hat mich im Nachhinein am meisten gekränkt. 

Lange habe ich alles verdrängt, habe nie wieder drüber nachgedacht. Bis ich dann im Internet auf einen Bericht über 'Verschickungskinder' gestoßen bin. Und siehe da – ich war nicht die einzige. Und dann kam alles wieder hoch, die ganzen Erinnerungen. Ich kann mir vorstellen, dass viele Kinder wirklich heftige psychische Schäden davongetragen haben." [zurück]

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Das Leiden der "Verschickungskinder"

hessenschau vom 14.11.2022
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Marianne (Name der Redaktion bekannt) aus Nümbrecht (NRW), 69 Jahre, "Verschickungskind" in Bad Nauheim 

"Meine Eltern haben mich 1962 ins Elisabethaus in Bad Nauheim (Wetterau) gebracht. Für die Fahrt hatte mein Vater extra ein Auto ausgeliehen. Meine Eltern wollten mit der Gruppenleitung sprechen und darum bitten, dass ich während meiner Kur für die Schule lernen dürfe. Das wollte ich auch gerne. Ich hatte wegen einer Operation am Herzen viel Unterricht verpasst.  

Spielende Kinder in einem "Verschickungsheim"
Kinder beim Tanzen in einem Kurheim in Bad Dürrheim im Jahr 1959. Bild © picture-alliance/dpa

Das ist ihnen zugesagt worden. Daraufhin haben sich meine Eltern verabschiedet, ich habe ihnen noch aus dem Fenster nachgewinkt. Direkt danach sind mir die Schulbücher und die Puppe abgenommen und im Flur in einem großen Schrank eingeschlossen worden. Beides habe ich erst zur Abreise sechs Wochen später wiedergesehen. Schon dieser erste Eindruck hat mich schockiert.  

Ich habe den direkten Vergleich zum Umgang mit Kindern in anderen Einrichtungen. Ich bin bei meiner Einschulungsuntersuchung als herzkrank diagnostiziert worden und mit sechs Jahren in Düsseldorf in der Uniklinik operiert worden. Nach der Operation in der Klinik erinnere ich, dass ich mit den anderen Mädchen in meinem Zimmer auch Quatsch gemacht habe, dass wir gespielt haben und dass die Schwester uns Obstsalat machte, der mir geschmeckt hat. Es gab im Krankenhaus sowohl schöne als auch schlimme Momente. Ganz anders war die Atmosphäre ein Jahr später in diesem Kindersanatorium. 

Ich erinnere mich an den Schlafsaal, wo wir Einzelbetten hatten, aber kein Nachttischchen oder irgendeine Möglichkeit, eine private Ecke einzurichten. Wenn die Nachtschwester reinkam, dann brüllte sie und schimpfte. Manchmal wurde auch ein Mädchen aus dem Bett gezerrt, das im Schlaf geredet oder ins Bett gemacht hatte und im Flur bestraft. In der Nacht durfte man nicht reden oder auf die Toilette gehen. Ich habe mich bemüht, nicht aufzufallen. 

Ich erinnere mich auch dunkel, dass wir zum Baden in dunkle Keller geführt wurden, dort waren Salinen und Holzbadewannen. Wir mussten uns ausziehen und dort baden. Eigentlich war ich eine echte Wasserratte, aber das Baden dort habe ich in sehr schlechter Erinnerung.  

Das Diakoniewerk Elisabethhaus erklärt auf hr-Nachfrage, seit 2003 in Trägerschaft der Gesellschaft für diakonische Einrichtungen in Hessen und Nassau (GFDE) mit Schwerpunkt Altenhilfe zu sein. Das Elisabethhaus sei bereits seit 1965 ein Alten- und Pflegeheim. Als Rechtsnachfolger könne man nur eingeschränkt Auskunft zu "Verschickungskindern" und der Zeit vor 1965 geben, da es keine Unterlagen oder Aufzeichnungen gebe. Eine Aufarbeitung sei daher nicht möglich.

Man wisse, dass die Einrichtung ein "Verschickungsheim" gewesen sei, zuletzt unter dem Namen "Kindersanatorium Elisabethhaus Bad Nauheim", und von einem Bad Nauheimer Arzt begleitet. Die Pflege und Betreuung der Kinder habe den Diakonissen eines anderen Trägers unterlegen. Es gebe keine Informationen über Erziehungsmethoden oder medizinische Verordnungen. In der Vergangenheit habe es vereinzelt Kontaktanfragen von ehemaligen "Verschickungskindern" gegeben. Dies sei allerdings nicht schriftlich dokumentiert, man müsse sich dabei "auf die Erinnerung langjähriger Mitarbeitender berufen".

Die Salinen, an die sich Marianne erinnert, sind laut Diakoniewerk Elisabethhaus noch heute vorhanden. Die Badesäle mit Badewannen und Sole-Zulauf im Erdgeschoss des Hauses seien im Zuge des Umbaus zum Alten- und Altenpflegeheim nach 1965 entfernt worden.

Am schlimmsten fand ich, dass wir Briefe oder Postkarten nach Hause schreiben mussten, die uns diktiert wurden. Auch die eingehende Post wurde gelesen und teilweise vorgelesen. Es gab auch eine Situation, in der ein Mädchen in der Postkarte an die Eltern etwas geschrieben hatte, das den Schwestern nicht passte. Dann wurde dieser Brief zerrissen und das Mädchen wurde ganz schlimm beschimpft. Das fand ich furchtbar. Die Kinder hatten alle Heimweh nach Hause und sehnten sich nach ihren Eltern. 

Nach der Kur stand ein Jahr später im Raum, dass ich wieder zur Kur fahren sollte. Ich habe mich heftig dagegen gewehrt. Zum Glück wurde ich dann nicht noch mal in ein Kindersanatorium geschickt." [zurück]

Karl Werner aus Kassel, 75 Jahre, "Verschickungskind" in Bad Karlshafen, Bad Reichenhall und Berchtesgarden (Bayern)

"Ich musste dreimal zur Kur. Ich weiß auch nicht, warum. Das hatte der Arzt so entschieden. Meine Eltern waren immer froh, wenn wir eine Genehmigung bekamen. In Bad Karlshafen und Bad Reichenhall war meine zwei Jahre jüngere Schwester dabei. Das war der einzige Lichtblick. Am Anfang des Jahres, wenn ich davor stand, wieder in eine Kur zu kommen, habe ich immer Panik geschoben.  

Wir reisten mit einem Sammeltransport an und bekamen alle ein Schild um den Hals, damit wir auch nicht verloren gingen. Die Verabschiedung war wegen des langen Zeitraums von sechs Wochen sehr tränenreich.  

Die Ankunft in den Heimen war auch wieder unter Tränen. Nach der langen Bahnfahrt wurden wir von 'Weißhäubchen' in Empfang genommen – also damals noch 'Tante Schwester'. Ich erinnere mich, dass in den Schlafsälen 20 bis 25 Stahlbetten standen. Die Räume waren weiß gekalkt. Es war alles ein bisschen wie im Krankenhaus.

Postkarte aus dem "Verschickungsheim" in Berchtesgarden
Postkarte aus dem "Verschickungsheim" in Berchtesgarden Bild © Privat

Zum Essen versammelten wir uns in großen Speisesälen. Währenddessen durfte nicht gesprochen werden. Wer doch geredet hat, musste aufstehen, sich mit dem Gesicht zur Wand stellen und so lange dort stehen bleiben, bis alle Kinder fertig waren. Wem das Essen nicht geschmeckt hat, der blieb halt so lange sitzen, bis der Teller leer war. Ich kann mich auch daran erinnern, dass ich einmal bis zum Nachmittag vor einem Teller Möhrengemüse mit Kümmel gesessen habe.

Toilettenverbote waren an der Tagesordnung, zum Beispiel nachmittags während des Mittagsschlafs. Wir haben dann versucht, Wasser in die Schuhe zu lassen. Nach der Mittagsruhe haben wir sie ausgeleert. Es war ein absolutes Horrorszenario, nach dem Essen oder am Nachmittag nicht mehr auf die Toilette zu dürfen.

Meine Eltern wussten natürlich nicht, was uns in dem Heim erwarten würde. Ich glaube nicht, dass sie sich darüber informiert haben. Wenn wir nach Hause kamen und von unseren Erlebnissen und den Strafen erzählten, war das für unsere Eltern normal. Wer sich nicht beträgt, der kriegt halt Strafe. Es hieß: 'Stell dich nicht so an, die wissen schon, was sie machen.'

Ich habe die Erlebnisse lange nicht verarbeitet. Vor zehn Jahren habe ich den ersten Schritt gemacht und bin zu dem Horrorheim nach Berchtesgarden gefahren, um mir das Haus noch einmal anzusehen. Aber es wurde mittlerweile abgerissen. Da überkam mich eine unheimliche Beruhigung, eine große Freude, dass dieses Haus nicht mehr existierte. Auch in Bad Karlshafen war ich noch mal und bin um das Haus herumgeschlichen. Die Erlebnisse in den Heimen haben mich geprägt." [zurück]

Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) teilt mit, man bedauere, dass es in den Kinderkurheimen des Deutschen Roten Kreuzes "zu Missständen, Demütigungen und Gewalt gekommen ist und den Kindern großes Leid zugefügt wurde". Man nehme das Thema ernst und wolle seiner Verantwortung nachkommen. Deswegen habe man 2022 gemeinsam mit der Deutschen Rentenversicherung (DRV), dem Deutschen Caritasverband und der Diakonie Deutschland ein Forschungsprojekt zur geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der "Kinderkuren" initiiert. Der DRV zufolge ist ein Forschungsteam der Humboldt-Universität Berlin mit der Durchführung beauftragt. Auch Betroffene seien involviert. Die Ergebnisse werden demnach für 2025 erwartet. In einem ersten Schritt gehe es darum, ein möglichst umfangreiches und genaues Bild von dem System hinter den "Verschickungsheimen" zu erhalten, zum Beispiel durch Interviews mit Betroffenen. Daraus wolle man weitere Maßnahmen ableiten, etwa um unterstützende Strukturen und Angebote für Betroffene schaffen zu können.

In Hessen betrieb das DRK laut eigenen Angaben vier "Verschickungsheime": in Bad Hersfeld, in Brandau im Odenwald, in Schlangenbad im Rheingau-Taunus-Kreis sowie in Wiesbaden. Das DRK geht davon aus, dass es auch dort zu Misshandlungen gekommen ist. Das gelte es in Einzelfallstudien zu untersuchen. Es sei außerdem geplant, Gesprächskreise für den Austausch mit Betroffenen anzubieten.

Auch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) verweist auf das Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität. Man befasse sich schon seit Jahren mit "Verschickungskindern". Demnach sind derartige "Kindererholungskuren" zwischen 1950 und 1990 auch durch die Rentenversicherung bzw. Vorgängerorganisationen wie die Landesversicherungsanstalten (LVA) organisiert oder in eigenen Einrichtungen durchgeführt worden.

Die Diakonie Hessen gibt an, selbst kein Träger von "Verschickungsheimen" gewesen zu sein. Der Verband bestehe in seiner jetzigen Form als Zusammenschluss der Diakonischen Werke der Evangelischen Kirchen von Kurhessen-Waldeck (EKKW) und Hessen und Nassau (EKHN) erst seit 2013. Die Vorläufer seien die Innere Mission und das Hilfswerk der Evangelischen Kirche Deutschland gewesen. Als reiner Dach- und Mitgliederverband sei die Diakonie Hessen heute kein Träger von Einrichtungen. Bisher hätten sich keine Betroffenen bei der Diakonie Hessen gemeldet.  

Die AOK Hessen teilt auf Nachfrage mit, Trägerin eines "Kinderkurzentrums" in Baden-Württemberg gewesen zu sein. Ende der 1990er Jahre sei die Zusammenarbeit wegen sinkender Nachfrage beendet worden. Fälle kriminellen Verhaltens oder Mobbings von Kindern durch Beschäftigte des Hauses seien nicht bekannt. Es gebe keine Unterlagen, die das nahelegten oder konkrete Verdachtsfälle. In der Folge habe es keinen Kontakt gegeben zu "Menschen, die dort oder in anderen Häusern vor Jahrzehnten untergebracht waren". Das bedeute aber nicht, dass man Vorfälle von Misshandlungen oder Missbrauch ausschließen könne: Die Zahl der Betroffenen in ganz Deutschland sei so hoch, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Kinder aus Hessen Opfer von Verbrechen geworden seien.

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Sendung: hr-iNFO, 23.07.2024, 6.52 Uhr

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Quelle: hessenschau.de