digitale Rekonstruktion Gebäude von Außen

1938 wurde die Marburger Synagoge von den Nazis in Brand gesetzt. Das große und prachtvolle Gotteshaus ist bis heute verloren. Nun kann es aber mit einem virtuellen Rundgang betreten werden.

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Virtuelle Synagoge in Marburg

Mann mit VR Brille
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Alltag in Marburg: Auf der Universitätsstraße am Fuß der Oberstadt rauscht der Verkehr entlang. Neben einem Unigebäude aus den 1960er-Jahren zeigt eine digitale Anzeigetafel, wie viele freie Plätze es noch im Parkhaus gibt.

Und gegenüber in Höhe der Hausnummer 11 direkt neben der Bushaltestelle steht die alte Synagoge. Es ist so, als wäre sie heute noch da, mitten in Marburg. Zumindest virtuell.

Reichspogromnacht am 9. November 1938

Denn die Realität sieht anders aus: Am 9. November 1938, der so genannten Reichspogromnacht, entlud sich in ganz Deutschland der Judenhass. Wütende Mobs zogen durch die Straßen, griffen Jüdinnen und Juden an, plünderten Geschäfte.

Wie in vielen anderen Städten ging auch in Marburg in den frühen Morgenstunden die Synagoge in Flammen auf. Die Kosten für die Abbrucharbeiten danach stellte man der jüdischen Gemeinde in Rechnung.

Garten des Gedenkens

Heute befindet sich in der Universitätsstraße 11 der Garten des Gedenkens: ein bewusst sehr offen gestaltetes Grundstück, umgeben von Marburger Geschäftshäusern.

Auf dem begrünten Platz stehen Sitzmöglichkeiten, eine begehbare Betoninstallation zeigt den früheren Grundriss und durch ein Sichtfenster im Boden kann man außerdem in das Untergeschoss blicken, das noch teilweise erhalten ist.

VR-Rundgang durch historisches Gotteshaus

Das abgebrannte Gebäude kann nun erstmals auch digital erlebt werden, mit Hilfe so genannter Virtual-Reality-Brillen (VR). Eine Marburger IT-Firma hat die Synagoge im digitalen Raum rekonstruiert.

Mit Brille auf dem Kopf und Joystick in der Hand geht es los: Ein paar Schritte die mächtige Steintreppe hoch, dann durch ein altes Holztor - und schon steht man mittendrin in dem einst prachtvollen Gotteshaus, das erst 1897 gebaut worden war.

Mit einer Laterne in der Hand geht es vorbei an dunklen Holzbänken, verzierten Geländern und dem zentralen Gebetsbereich. Eine Holztreppe führt hinauf auf die Frauenempore, und spätestens hier wird klar, welch beeindruckende Dimensionen dieses Gebäude hatte: Fast 500 Menschen fanden hier bei Gottesdiensten Platz.

Es ist ein äußerst atmosphärisch gestalteter virtueller Rundgang: Durch die großen mit Davidsternen verzierten Fenster fällt schummriges Licht in die Räume, an den Wänden und der Decke flackern Kerzen. Auch der Straßenlärm von der Universitätsstraße verebbt mit der Zeit, und mit jedem Schritt durch das alte Gemäuer hallt und knarzt es.

digitale Rekonstruktion Gebäude von innen

Marburger Firma entwickelte Modell

Entwickelt hat diese VR-Erfahrung die Marburger IT-Firma Inosoft. Thomas Winzer und seine Kollegen haben dafür historisches Bildmaterial und Grundrisse analysiert. Weil die Grundrisse maßstabgetreu und in guter Qualität vorhanden seien, sei es verhältnismäßig einfach gewesen, die Gebäudeumrisse ins Digitale zu übertragen, berichtet Winzer.

Bisher hat das Unternehmen das Erdgeschoss und den Emporen-Bereich rekonsturiert. Danach will man sich auch an das Untergeschoss machen, so Winzer. Hier befand sich unter anderem der Badebereich, die sogenannte Mikwe. So wird im Judentum das als Ritualbad genutzte Tauchbad bezeichnet, durch das Reinheit erlangt werden soll.

Bei einem Tag der offenen Tür konnten Menschen bereits erste Erfahrungen mit der VR-Nachbildung machen. Winzer berichtet: Der Realitätsgrad sei als sehr groß wahrgenommen worden. "Man liest darüber und weiß auch, dass die Synagoge in der Nazizeit zerstört wurde, vielleicht hat man mal ein Bild gesehen - aber sie jetzt mal zu betreten, das ist für die meisten ein sehr spannender Moment."

"Wichtig zu zeigen, was noch da sein könnte"

Die Jüdische Gemeinde in Marburg, die seit 20 Jahren eine neues Synagogengebäude in der Marburger Liebigstraße nutzt, hat sich auf hr-Anfrage bisher nicht zu der VR-Rekonstruktion geäußert.

Ein Mitglied, das nicht namentlich genannt werden möchte, hat die Visualisierung bereits ausprobiert und sagt: Grundsätzlich sei es gut und wichtig, jüdisches Leben zu zeigen und auch das zu zeigen, was verloren gegangen ist und was noch da sein könnte. "Man hat ja auch wenige von diesen prachtvollen Synagogen noch in Deutschland, um diese Dimensionen und den verlorenen Reichtum zeigen zu können."

An der konkreten Umsetzung könne man aber noch einige Dinge verbessern, etwa was verschiedene gestalterische Elemente oder die Darstellung jüdischen Lebens angeht. "Zum Beispiel ist die Bima, das Lesepult, zu klein für eine Thora-Rolle." Der Firma habe man dies bereits mitgeteilt.

Synagogen in VR: Vorreiterin derzeit TU Darmstadt

Die Marburger Synagoge ist nicht die einzige, die inzwischen virtuell "betreten" werden kann. Immer mehr Hochschulen, Unternehmen oder Museen haben in letzter Zeit ähnliche Projekte gestartet, um verlorene jüdische Gotteshäuser wieder erlebbar zu machen.

So rekonstruierte beispielsweise das Israel Museum in Jerusalem die im syrischen Bürgerkrieg zerstörte Zentralsynagoge von Aleppo. Und auch die 1957 in der Sowjetzeit zerstörte Große Synagoge Vilnius (Litauen) gibt es inzwischen als 3D-Rekonstruktion.

Vorreiterin in Hessen ist derzeit die TU Darmstadt, an der in den vergangenen Jahren mehrere Synagogen in VR-Modellen rekonstruiert wurden. Einige davon, etwa die von zerstörten Gebäuden in Köln, Plauen und Hannover, gehören inzwischen zur Dauerausstellung des jüdischen Museums in Berlin.

Marburger Firma hofft auf Einbindung der Stadt

Wo genau das Modell der Marburger Synagoge in Zukunft seinen Platz finden wird, ist derzeit noch offen. Momentan kann es kostenlos auf Anfrage in den Räumen der Firma Inosoft ausprobiert werden, genauso wie eine Rekonstruktion einer weiteren Marburger Synagoge, die früher in der Oberstadt stand. Dieses Modell wurde im Rahmen des 800. Stadtjubiläums auch im Kulturamt ausgestellt.

Eindrücke aus dem virtuellen Rundgang durch die frühere Synagoge in der Oberstadt zeigt das Unternehmen auf YouTube.

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Geschäftsführer Thomas Winzer hat nach eigenen Angaben rund 15.000 Euro in die Entwicklung des Modells gesteckt und nennt es ein "Geschenk an die Stadt". Er hofft, dass die Stadt die Entwicklung in irgendeiner Weise fest einbinden wird, im Idealfall wäre das aus seiner Sicht sogar direkt am ehemaligen Standort der Synagoge an der Universitätsstraße. Bisher habe er dazu aber noch keine Reaktion der Stadt bekommen.

Während die Marburger Stadt und Land Tourismus GmbH auf hr-Anfrage deutliches Interesse bekundet, das Modell zukünftig in Marburg mehr einzubinden, hat die Stadt bisher noch nicht auf eine entsprechende Anfrage reagiert.

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