Wandern, Wiesen, Wehrmacht So ködern Rechtsextreme Jugendliche auf TikTok und Telegram

Sie locken mit Blumenwiesen, Zusammenhalt und Heimat-Gefühl. Soziale Medien spielen eine zentrale Rolle bei der Radikalisierung junger Menschen. Ein Schwerpunkt liegt derzeit offenbar in Mittelhessen.

Collage. Links: Social Media Post mit Schriftzug "Stolz auf Wurzeln. Stark im Herzen", darunter eine junge Frau im Blumenfeld. Rechts: Eine Reihe junger Männer von hinten in weißen Hemden
Rechtsextreme Influencer posten auf TikTok und Telegram. Bild © hessenschau.de/Screenshots TikTok und Telegram

Für die Jungs: Holzhacken, Liegestütze, Technobeats. Und für die Mädchen: Blumenwiesen, Flechtzöpfe, Schlagerpop.

Mit inszenierter Landidylle, Körperkult und Heimat-Ästhetik werben rechtsextreme TikTok-Accounts um junge Follower. "Sei stolz auf deine Wurzeln", heißt es da etwa. Manche Videos sind unterlegt mit Heil-Hitler-Originalton, andere eingebettet in beige-braunen Lifestyle-Content.

"Her zu uns", lädt eine stark geschminkte Influencerin mit blondem Zopf und Bauernrock ein, die verträumt durch Felder streift. Sie bewirbt den "Mädelbund". Das ist laut Medienberichten ein frisch gegründeter Ableger der rechtsextremen Jugendorganisation Junge Nationalisten. Ihr Account ist erst wenige Wochen aktiv - die Videos haben tausende Likes.

Videobeitrag

Politische Radikalisierung von Jugendlichen durch soziale Medien

Interview auf dem Basketball-Platz
Bild © hr
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Verfassungsschutz: "Gezielte Ansprache junger Menschen"

Ob sich auch der festgenommene, mutmaßlich rechtsextreme 14-jährige Terrorverdächtige aus Hessen über soziale Medien radikalisiert hat, ist noch unklar. Es liegt durchaus nahe. Der Hessische Verfassungsschutz sieht in solchen Plattformen einen zentralen Radikalisierungsraum.

Besonders auffällig sei, dass viele Inhalte "gezielt auf junge Menschen ausgerichtet" seien, teilt die Behörde mit. Das geschehe über emotionale Ansprache oder jugendaffine Formate wie Memes oder Reels.

Dabei nutzten rechtsextreme Akteure Strategien der "ästhetisch anschlussfähigen Kommunikation", um ideologische Inhalte auf den ersten Blick harmlos oder ironisch wirken zu lassen. Die Schwelle zur Auseinandersetzung mit rechter Ideologie werde damit bewusst niedrig gehalten, ohne dass eine klare politische Botschaft sofort erkennbar sei.

Schwerpunkt Mittelhessen

Einen besonderen Schwerpunkt bei rechtsextrem motivierten Vorfällen sieht der Verfassungsschutz derzeit in Mittelhessen. Hier gab es zuletzt eine ganze Reihe Fälle. Zum Teil geht es dabei um Lieder oder Sprüche wie etwa an der Gießener Liebigschule.

Manche Fälle sind schwerwiegender: Im Kreis Limburg-Weilburg fand man bei einem Jugendlichen ein ganzes Waffenarsenal, ein anderer wurde wegen Umsturzplänen verurteilt. Eine Gruppe rechtsextremer Teenager wurde festgenommen, weil sie einen vermeintlich pädophilen Mann angreifen wollten.

Der Verfassungsschutz berichtet: Im Nachgang würden rechtsextreme Aktionen regelmäßig auf Social-Media-Kanälen inszeniert. Mitunter sei gerade diese mediale Inszenierung die eigentliche Motivation dafür.

Lahn-Dill: Rechtsextremer Lokalpolitiker wirbt auf TikTok

Parteipolitisch organisierte Rechtsextreme sind in Mittelhessen nicht nur in verschiedenen Parlamenten vertreten, sondern auch in den Sozialen Medien aktiv: Thassilo Hantusch etwa, ein Kreistagsabgeordneter im Lahn-Dill-Kreis und der Landesvorsitzende der Jungen Nationalisten. Er zeigt sich in TikTok-Videos bei Demonstrationen oder beim Wandern mit Hashtags wie "elegant, sportlich, sexy".

Damit erreicht er zwar längst nicht so viele TikTok-User wie die "Mädelbund"-Influencerin. Dafür folgen ihm aber junge Menschen offenbar auch im ganz realen Leben.

Wanderausflug zum Wehrmachtsflugplatz

Vor wenigen Wochen postete Hantusch ein Video einer Wanderung mit mehreren jungen Männern - einige davon augenscheinlich sehr jung - und einer Fahne der Jungen Nationalisten. Stationen: Wälder, Wiesen, ein früherer Wehrmachtsflugplatz. Man habe "gute Gespräche" geführt, schrieb Hantusch dazu.

Junge Männer in grüner Wanderkleidung mit Fahne in der Hand im Wald
Thassilo Hantusch postete ein Video von einer Wanderung im Lahn-Dill-Kreis. Bild © hessenschau.de/Screenshot Telegram

Nach hr-Informationen hatte Hantusch auch zu der Gruppe Jugendlicher Kontakt, die 2024 den Angriff auf den vermeintlich pädophilen Mann geplant haben soll.

In einem Telegram-Kanal der Jungen Nationalisten Hessen finden sich zudem Fotos von einem "Gemeinschaftstag": junge Männer in weißen Hemden, Fackeln in der Hand, erhobene Arme beim Schwur.

Laut Chat schworen neue Mitglieder vor einer alten Fahne auf das "Volk". Die Fahne hatte demnach der wegen Volksverhetzung verurteilte Neonazi Meinolf Schönborn mitgebracht, der offenbar auch eine Rede hielt.

"Diese Jugendlichen sind kaum noch erreichbar"

Die Gießener Politologin Alexandra Kurth sagt: Auch in den 1990er Jahren habe es durchaus radikalisierte Jugendliche gegeben. Das seien aber eher 16- oder 17-Jährige gewesen. Dass nun Verdächtige festgenommen werden, die fast noch Kinder seien, sei neu.

"Das zeigt, dass diese politischen Radikalisierungsprozesse über das Internet offensichtlich immer früher einsetzen", sagt die Politologin. Sie nennt diese sehr frühen Sozialisationsprozesse sehr gefährlich.

"Wenn junge Menschen sich so früh derartig stark radikalisieren und sogar Bereitschaft zeigen, zur Tat zu schreiten, haben sie eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, darin zu bleiben", warnt Kurth. Mit normalen bildungspolitischen Maßnahmen seien sie dann kaum noch erreichbar.

Politologin: Digitalisierung beschleunigt Radikalisierung

Ein Grund für die frühe Verankerung rechter Weltbilder sieht Kurth auch in einem derzeit verbreiteten Krisengefühl. Dies führe dazu, dass Jugendliche glaubten, man müsse jetzt schnell und möglichst heftig handeln.

Es brauche Aufklärungsarbeit, aber auch gesellschaftliche Gegenentwürfe. "Wir müssen vermitteln, dass wir nicht in so heftigen Krisensituationen sind, wie das in der politischen Debatte oft suggeriert wird", rät die Politologin. Zugleich müsse deutlich gemacht werden, wo die Verfassung Grenzen setzt.

Bildungsstätte Anne Frank: "Alarmierend, aber nicht überraschend"

Auch die Bildungsstätte Anne Frank warnt: Rechtsextreme Inhalte verbreiten sich auf Social Media und in Gaming-Communitys derzeit ungefiltert. Immer jüngere Jugendliche und Kinder seien einer Flut antisemitischer, rassistischer, rechtsextremer Inhalte weitgehend unreguliert ausgesetzt und würden damit alleingelassen.

Die Politik müsse deutlich in Demokratieförderung, digitale Medienbildung und Deradikalisierung investieren, statt Migrationsdebatten zu führen, sagt die Direktorin der Bildungsstätte, Deborah Schnabel.

Dass bereits 14-Jährige in rechten Terrorzellen Anschläge auf Geflüchtete und politisch Andersdenkende planen und Umsturzpläne schmieden, sei höchst alarmierend, so Schnabel. Überraschend sei es leider nicht.

"Dass die Normalisierung extrem rechter Politik und die im Digitalen enorm beschleunigten Radikalisierungsprozesse immer jüngerer Menschen in Gewalt münden, war nur eine Frage der Zeit." Rechtsextremismus sei eine Jugendkultur, das sei nicht mehr von der Hand zu weisen.

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau,

Quelle: hessenschau.de mit Informationen von Franco Foraci, Nina Michalk und Benjamin Müller